Beat Döbeli Honegger

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surft, hinterlässt eine Datenspur, die zu personalisierter Werbung führt. Und auch Personen ohne eigenes Social-Media-Konto können durchaus in deren internen Datenbanken auftauchen. Social-Media-Unternehmen laden mit Vorliebe die digitalen Adressbücher ihrer Mitglieder auf die eigenen Server, um die sozialen Beziehungen auszuwerten und neue Mitglieder gezielt anwerben zu können. Die zunehmende Datenmenge führt unter anderem dazu, dass immer präzisere Prognosen zu den Lebensumständen einzelner Menschen möglich werden. Berühmt geworden ist das Beispiel einer Warenhauskette, welche die Schwangerschaft einer jungen Kundin prognostiziert und entsprechende Werbung zugestellt hatte, bevor diese die Schwangerschaft selbst bemerkt hatte

t15708; ähnlich die Studie, welche die Homosexualität der Userinnen und User mit hoher Wahrscheinlichkeit allein aufgrund der abrufbaren Freundschaftsbeziehungen auf Facebook voraussagen konnte
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.

      Angesichts solcher Entwicklungen halten verschiedene Stimmen die Privatsphäre für ein Auslaufmodell und rufen das Zeitalter der post privacy

w2424 aus. Insbesondere Chefs von großen Informatikfirmen haben sich mehrfach in diese Richtung geäußert, so zum Beispiel der ehemalige CEO von Sun Microsystems, Scott McNealy. Er meinte 1999: »Sie haben ohnehin null Privatsphäre. Kommen Sie damit klar!« Zehn Jahre später erklärte der damalige CEO von Google, Eric Schmidt, lapidar: »Wenn es etwas gibt, von dem man nicht möchte, dass es die Welt erfährt, dann sollte man es nicht tun.« Wird damit George Orwells Roman 1984
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noch übertroffen und führt das Bewusstsein, wie in Benthams Panoptikum
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dauernd beobachtet zu werden, dazu, dass Menschen sich selbst im Privaten nicht mehr trauen, gewisse Dinge zu tun, zu sagen oder gar zu denken?

      Anders als in 1984 beschrieben, fürchten sich Staat und Unternehmen allerdings auch vor der neuen Macht einzelner Menschen. Hatte die Aufdeckung der Watergate-Affäre noch einen Fotokopierer und viel Handarbeit benötigt, um ein 44-bändiges Geheimdokument an die Öffentlichkeit zu bringen, genügen in der heutigen Zeit fingernagelgroße USB-Sticks oder das allgegenwärtige Internet, um Dokumente aus geschützten Armee- und Staatsumgebungen zu entwenden, die früher in Papierform mehrere Lastwagen gefüllt hätten. Wikileaks

w2216 und die von Edward Snowden
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aufgedeckten Geheimdienstaktivitäten
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sind dafür die bisher prominentesten Beispiele.

      Auch Unternehmen fürchten sich heutzutage vor einzelnen Kundinnen und Kunden. Einerseits war es für die Kundschaft noch nie so einfach, Preisvergleiche herzustellen, andererseits können unzufriedene Kunden dank Internet und Social Media viel einfacher Aufmerksamkeit erregen und mitunter mit einem Shitstorm

w2838 den Ruf eines Unternehmens beschädigen. So erreichte beispielsweise der Protestsong United breaks guitars eine solche Verbreitung, dass bei der Eingabe von »United« die Suchmaschine Google eine Zeit lang automatisch »breaks guitars« als Ergänzung vorschlug.

      Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung beeinflussen auch das Verhältnis von Unternehmen und Staaten. So zeigen die von Edward Snowden veröffentlichten Dokumente, dass Geheimdienste auch handfeste Wirtschaftsspionage betreiben und damit den Unternehmen im eigenen Land auf Kosten ausländischer Unternehmen helfen. Unternehmen wiederum können sich dank der Globalisierung immer stärker staatlichen Regulierungen und insbesondere staatlichen Steuern entziehen

w2839. Immaterielle Güter wie Software oder Patente lassen sich an einem beliebigen Ort auf der Welt registrieren. Weltweit operierende Unternehmen gründen somit Briefkastenfirmen an Orten, an denen die staatlichen Regelungen bezüglich Steuerbelastung oder Datenschutz für sie besonders optimal sind, und verschieben ihre Unternehmensgewinne oder ihre Daten dorthin.

      Einige dieser Entwicklungen des Internets, aber auch viele seiner Potenziale, sind auf dessen offene Grundarchitektur zurückzuführen. Verschiedene Experten befürchten jedoch, dass diese Offenheit von kurzer Dauer sein könnte

a1226. So weist beispielsweise Jonathan Zittrain in seinem Buch The Future of the Internet
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bereits im Jahr 2006 darauf hin, dass frühere Betriebssysteme das Installieren beliebiger Software erlaubt haben, aktuelle Geräte jedoch nur noch beschränkte Installationsmöglichkeiten bieten. Eine ähnliche Einschränkung findet im Internet statt, das offene World Wide Web droht, durch geschlossene soziale Netzwerke wie Facebook ersetzt zu werden. Somit könnten bald kommerzielle Unternehmen entscheiden, was im Internet wie leicht zu finden ist. Darum geht es unter anderem bei der aktuellen Diskussion um die Netzneutralität
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. Damit wird die aktuelle, allerdings ungeschriebene Regel im Internet bezeichnet, dass alle Daten gleichberechtigt weitergeleitet werden. Derzeit kann niemand mit Geld erreichen, dass seine Daten schneller oder zuverlässiger ankommen. Tim Wu zeigt in seinem im Jahr 2010 erschienenen Buch The Master Switch
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, dass bereits frühere Medien mit einer Phase der Offenheit begonnen haben und nach einiger Zeit durch Marktentwicklungen und staatliche Eingriffe stark reguliert und eingeschränkt wurden.

      Werkzeuge prägen unser Denken

      Die Digitalisierung verändert nicht nur die Arbeitswelt und führt zu einem allgemeinen Kontrollverlust. Der Leitmedienwechsel verändert auch unser Denken und Zusammenleben – das wird bereits klar, wenn man sich die Veränderungen in unserer Kommunikation und Terminplanung durch E-Mail und Mobiltelefon vor Augen führt. Unverbindlichkeit und Entscheidungen in letzter Sekunde haben stark zugenommen. Medientheoretiker wie Vilém Flusser

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oder Neil Postman
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haben bereits vor dem Aufkommen des Computers darauf aufmerksam gemacht, dass Werkzeuge schon immer unser Denken und Handeln beeinflusst haben
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.

      Exemplarisch