Beat Döbeli Honegger

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Spektrum aufgezeigt, welche Reaktionsweisen auf den Leitmedienwechsel an Schulen zu beobachten sind. Diese »Leitmedienwechsel-Reaktionsskala« erleichtert einerseits den Überblick über die Debatte. Die Skala kann aber auch ganz konkret in Diskussionen hilfreich sein, um verschiedene Gesprächsbeiträge und Standpunkte einordnen und die dahinterstehenden Positionen voneinander abgrenzen beziehungsweise überhaupt erkennen zu können.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 0: Ignorieren

      Die einfachste Art, auf den Leitmedienwechsel zu reagieren, besteht darin, den Wandel auszublenden oder die Folgen für Schule und Bildung zu leugnen

a1180. Diese Haltung trifft man im bildungspolitischen Alltag häufig an. Mitunter ist es jedoch schwierig abzuschätzen, ob es sich beim Ignorieren des Themas um eine bewusste oder unbewusste Entscheidung handelt. Woran lässt sich das Ignorieren eines Themas überhaupt erkennen? Äußert es sich darin, dass ein Thema nicht angesprochen wird? Es gibt Dokumente, welche diese Ignoranz sichtbar werden lassen. Die derzeit wählerstärkste Schweizer Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), hat 2010 einen Lehrplanentwurf für die gesamte Schweizer Volksschule vom Kindergarten bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit vorgelegt. In dem 94-seitigen Schriftstück kommt der Begriff »Computer« gerade zwei Mal und der Begriff »Internet« ein einziges Mal vor, jedoch nie im Zusammenhang mit der Frage, was Schülerinnen und Schüler künftig lernen sollen. Stattdessen wird die lähmende Verzettelung des heutigen Unterrichts kritisiert und eine Konzentration auf die basalen »Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen« gefordert. Dementsprechend findet Digitalisierung und Leitmedienwechsel bei der SVP nicht statt. Dass die Digitalisierung kein Thema ist, dürfte eine bewusste Konsequenz der Parteipolitik sein, die sich auch außerhalb der Bildung auf Altbewährtes fokussiert.

      Weniger klar ist die Sache bei Bildungsexpertinnen und -experten. Einerseits existiert eine Fülle an spezifischer Literatur, die sich mit der Frage beschäftigt, welche Konsequenzen die Digitalisierung für Lehrpläne, Unterrichtsgestaltung, Lehrerinnen- und Lehrerausbildung und Schulhausinfrastruktur haben sollten

f154. Andererseits scheint die allgemeine deutschsprachige bildungspolitische Literatur das Thema »Leitmedienwechsel« bisher weitgehend zu ignorieren. So zählen zwei neuere bildungspolitische Publikationen die Digitalisierung beziehungsweise den Leitmedienwechsel nicht zu den aktuellen Herausforderungen der Schule. Rolf Dubs liefert in seinem 2010 publizierten Buch Bildungspolitik und Schule – wohin
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kurze und leicht verständliche Entscheidungshilfen zu 38 wichtigen Schulthemen, Digitalisierung oder Leitmedienwechsel sucht man jedoch vergebens. Auch in den 18 Beiträgen des 2011 von Lucien Criblez, Barbara Müller und Jürgen Oelkers herausgegebenen Sammelbands Die Volksschule zwischen Innovationsdruck und Reformkritik
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ist der Leitmedienwechsel erstaunlicherweise kein Thema. Selbst im Beitrag zum Thema »Lehrmittel« wird die Digitalisierung nicht einmal im Abschnitt Künftige Entwicklungen erwähnt
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. Der Begriff »multimedial« fällt zwar mehrfach, aber digitalen Medien bleibt im Text knapp die Rolle der Ergänzung zum gedruckten Lehrmittel.

      Leitmedienwechsel-Reaktion -1: Gegensteuern!

      Einfacher einzuordnen sind die Reaktionen derer, die in der Digitalisierung vor allem negative Folgen für Schule und Bildung sehen und entsprechend gegensteuern möchten. Oft wird ein idealisiertes Bild der bisherigen Schule dem Schreckensszenario einer vollständig digitalisierten Lebenswelt gegenübergestellt. Gemäß dieser Argumentation ist es die Aufgabe der Schule, eine möglichst von der Digitalisierung unberührte Umgebung zu erhalten

a1192. In der Schule sollen diejenigen Kompetenzen gefördert werden können, die durch die Digitalisierung bedroht werden. Vertreterinnen und Vertreter dieser Position sehen die gesunde Entwicklung von Kindern durch digitale Medien bedroht, dies insbesondere in der Schule. Häufig sind Aussagen der folgenden Art zu hören:

      › Kinder benötigen Primärerfahrungen, computervermittelte, virtuelle Erfahrungen können diese nicht ersetzen und würden die Kinder nur verwirren und überfordern.

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      › Kinder benötigen Bewegung, und Computernutzung führt zu phlegmatischem Herumsitzen und damit zu Haltungsschäden und Übergewicht.

      › Kinder benötigen eine geschützte Kindheit, die sie vor gewalthaltigen und pornografischen medialen Einflüssen der rohen Erwachsenenwelt abschirmt.

      › Kinder müssen vor falschen Anreizen geschützt werden. Digitale Medien fördern Konsumismus und liefern zu leichte Erfolgserlebnisse, was die Anstrengungsbereitschaft und damit die Schulleistungen senkt.

      › Kinder müssen selbst denken lernen und sollen dies weder dem Computer überlassen noch sich mit oberflächlichen Antworten aus dem Internet zufriedengeben.

      Eine konstruktive Diskussion ist mit Vertreterinnen und Vertretern dieser Position manchmal schwierig, vor allem dann, wenn eine absolute Entweder-oder-Position vertreten wird, die mitunter auch sektiererische Züge annehmen kann. Kapitel 7 beschäftigt sich intensiver mit der Frage, wie mit dieser destruktiven Pauschalkritik umgegangen werden kann.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 1: Integration in alle Fächer

      Während dies die ersten beiden Reaktionsweisen verneinen, sind sich die Vertreter der nächsten Positionen darin einig, dass der Leitmedienwechsel ein Thema darstellt, das die Schule betrifft. Es gibt allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber, wie stark sich die Schule vom Leitmedienwechsel beeinflussen lassen soll. Die derzeit verbreitetste Position geht davon aus, dass die Digitalisierung alle Lebensbereiche betrifft und deshalb auch in alle Schulfächer integriert werden sollte

a1181. Die Digitalisierung wird als Thema der Allgemeinbildung gesehen. Dabei reichen die Begründungen von einem eher sanften »Es genügt, wenn sich alle Fächer etwas mit digitalen Themen beschäftigen« bis zum stärkeren »Da der Leitmedienwechsel überall stattfindet, müssen entsprechende Themen auch überall integriert werden!«. Die integrative Position ist bereits in vielen aktuellen Lehrplänen zu finden. Oft wird dabei in Lehrplanzusätzen definiert, was im Bereich der Digitalisierung zu vermitteln sei, ein eigenes Fach oder dafür reservierte Unterrichtsstunden sind dafür aber nicht vorgesehen. In der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zeigt sich diese Position darin, dass keine entsprechend expliziten Ausbildungsmodule mit digitalen Themen vorgesehen sind, sondern diese in andere Module integriert werden.

      Leitmedienwechsel-Reaktion 2: Es braucht ein Fach

      Ohne Zeitgefäß fehle dem Thema die notwendige Verbindlichkeit, monieren die Verfechterinnen und Verfechter eines eigenen Fachs. Im Vergleich zu den als Fächer strukturierten Bereichen würden überfachliche Aspekte auf mehreren Ebenen oft marginalisiert, wenn die Ressourcen fehlen. In der Schule würden sich Lehrkräfte daher eher auf Themen konzentrieren, für die Noten vergeben werden. In der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern werde das Gewicht stärker auf die Fächer als auf überfachliche Aspekte gelegt, sowohl was die Ausbildungszeit der Studierenden als auch was die Schaffung von entsprechenden Lehrstühlen betrifft. Schulbehörden und Schulleitungen würden