»Bärbel!«
»Wenn sie mir Juckpulver ins Kleid gestreut hat.«
»Ich?« rief Anita entrüstet, »ich habe nichts getan.«
»Lügen tut sie auch noch! Du hast die Tüte noch bei dir«, und ehe Bärbel die Erlaubnis der Lehrerin abwartete, hatte sie Anitas Mappe ergriffen, warf in leidenschaftlicher Erregung Bücher und Hefte heraus und holte triumphierend die kleine Tüte hervor.
»Die hat mir jemand in die Mappe gesteckt«, rief Anita.
Wie eine Katze war Bärbel neben der Mitschülerin, riß die Tüte auseinander und streute den Inhalt über Anita aus.
»Nun kannst du dir Ameisen ablesen!«
Fräulein Fiebiger war machtlos. Die Empörung Bärbels war ihr verständlich; aber sie konnte dem Kinde wiederum nicht verzeihen, daß sie von ihm tätlich angegriffen worden war. Anita weinte laut, so daß sich Fräulein Greger, die im Nebenzimmer Erdkunde gab, genötigt sah, persönlich einzugreifen.
»Was geht hier vor?«
Fräulein Fiebiger wollte antworten, aber Bärbel, Maria und Anita schrien gleichzeitig auf sie ein, so daß sie zunächst nichts weiter verstand als das immer wiederkehrende Wort Juckpulver.
Schließlich klärte sich die Sache auf. Anita wurde eine Stunde Nachsitzen zudiktiert, Bärbel kam nur mit einem sanften Verweise davon; doch sollte sie sich bei Fräulein Fiebiger entschuldigen.
Das geschah. Fräulein Fiebiger verzieh der kleinen Sünderin mit sauersüßem Gesicht, und Bärbel war vollauf befriedigt.
Der Schluß der Unterrichtsstunde bestand in Ermahnungen und einem Vortrag über Rache und Vergeltung. Fräulein Fiebiger erklärte ihren Schülerinnen mit Nachdruck, daß von jetzt an alle Rachegelüste zu unterbleiben hätten, und daß derjenige, der neu etwas anzettelt, von morgen ab viel strenger bestraft werde als bisher.
»Von morgen ab«, flüsterte Bärbel der Freundin Lore zu, »da wollen wir Anita schnell noch heute einen Schabernack spielen.«
»Ich hab’ schon was mit«, sagte Lore.
Nun ging es ganz heimlich an die Vorbereitungen, Lore zog einen mäßig dicken Bindfaden aus der Tasche, der zu einer zusammenziehbaren Schlinge geknotet wurde.
»Ich sitze neben ihr«, sagte Lore, »ich werde es so einrichten, daß ich ihr die Schlinge um das eine Bein lege, ohne daß sie was merkt.«
»Und ich ziehe«, frohlockte Bärbel, »ich sitze ja vor ihr.«
Die Vorbereitungen waren bald beendet. Um den rechten Fuß der ahnungslosen Anita hatte sich die Schlinge gelegt, unter der Bank führte der Bindfaden nach vorn durch, zu Bärbels Hand. Nun lauerten die beiden Missetäter darauf, daß Anita zu einer Antwort aufgerufen wurde. Wenn sie sich dann erhob, zerrte Bärbel an dem Faden, und wenn alles klappte, rutschte Anita aus und fiel in die Bank zurück.
Der große Augenblick kam bald. Anita wurde gefragt, sie erhob sich, ein energischer Ruck folgte, mit Gepolter fiel Anita zurück, und schlug mit dem gezerrten Bein gegen die Bankkante.
»Was machst du schon wieder, Anita?« sagte Fräulein Fiebiger empört.
»Ich bin irgendwo hängengeblieben, Fräulein.«
Lore hatte sich schon gebückt, die Schlinge vom Fuße Anitas entfernt und den Bindfaden in der Tasche verborgen.
Aber als das Spiel wiederholt wurde, merkte Anita die Bosheit.
»Sie haben mich festgebunden, Fräulein, ich habe mich furchtbar geschlagen!«
Ehe es Lore gelang, die Schlinge wieder zu lösen, hatte Anita den Bindfaden ergriffen, hinkte damit zu Fräulein Fiebiger, um ihr alles zu zeigen.
»Einen blauen Fleck hab’ ich mir geschlagen. Wenn ich dünne Seidenstrümpfe anhabe, ist das ganze Bein ruiniert.«
Fräulein Fiebiger brauchte nicht erst zu fragen, wer der Beteiligte war. Auf den Gesichtern der kleinen Missetäter stand die reinste Schadenfreude.
»Habe ich euch nicht eben einen Vortrag gehalten, wie häßlich es ist, anderen einen Schabernack zu spielen? Habe ich euch nicht mit strengster Strafe gedroht?«
Anita heulte immer lauter. »Sie hätten mir das Bein ausreißen können.«
»Ich sagte euch, daß ich derartige Ungezogenheiten streng bestrafen werde. Hast du das nicht gehört, Bärbel?«
»Sie sagten doch: von morgen ab. Und da haben wir es schnell noch heute gemacht!«
»Du bist ein ganz naseweises Ding, Bärbel. Du wirst mit Lore heute ebenfalls nachsitzen.«
»Da hätten wir die Sache auch morgen machen können«, flüsterte Bärbel der Freundin zu. »Morgen hätten wir einen dicken Strick gehabt, da wäre sie platt auf den Bauch gefallen, wenn wir mehr angezogen hätten. Schade!«
Nach Schulschluß saßen die drei Sünder nach. Fräulein Fiebiger wich nicht aus dem Zimmer, sie fürchtete, daß die feindlichen Parteien sich tätlich angriffen. Sie schickte auch die Nachsitzer in Abständen heim, um zu verhüten, daß vor der Schule eine Prügelei stattfand.
In der Apotheke wartete man auf Bärbel. Frau Wagner schaute sorgenvoll nach der Uhr. In der letzten Zeit hatte Bärbel den Eltern Freude gemacht, sie hatte fleißig gelernt, aber heute schien nun doch wieder einmal etwas vorgefallen zu sein, sonst wäre Goldköpfchen längst daheim.
Da erschien das Mädchen von Fräulein Greger und brachte ein Paketchen. Man habe den Inhalt gefunden, er gehöre wohl Bärbel. Ahnungslos wickelte Frau Wagner das Paket auf und sah auf den Unterrock.
»Gefunden, – wo hat man das hier gefunden?«
Die Botin konnte darüber keine Auskunft geben. In Frau Wagner stieg grenzenlose Angst auf. – Was war geschehen? Wie konnte jemand Bärbels Unterröckchen finden? War dem Kinde etwas zugestoßen?
Vielleicht hatte man Goldköpfchen entkleiden müssen, der Unterrock war liegengeblieben. Ein Unglücksfall geschieht so rasch. – Die gräßlichsten Bilder stiegen vor den Augen der besorgten Mutter auf. Sie holte Hut und Mantel, und ohne dem Gatten etwas zu sagen, eilte die geängstigte Mutter nach der Schule.
Gerade vor der Haustür des Schulhauses traf sie mit Bärbel zusammen, die die Augen zusammenkniff, als sie die Mutter erblickte.
»O-o-ch, du holst mich ab, – das ist fein!«
Frau Wagner sah nur das gesunde Kind vor sich stehen, sie breitete die Arme aus und zog Goldköpfchen an sich. Erst langsam wurde sie wieder ruhiger. Bärbel schaute unsicher nach der Mutter, sie konnte sich deren Verhalten nicht erklären. Sie mußte nachsitzen und wurde dafür von der Mutter umarmt. Aus der Unsicherheit heraus wagte sie auch keine Frage, sondern schritt artig neben der Mutti daher. Erst nach einer längeren Weile hatte Frau Wagner die Ruhe zurückgewonnen und forschte nun, warum das Kind heute so spät aus der Schule käme.
»Wenn ich dir jetzt sagte, daß ich nachgesessen habe, Mutti, würdest du einen ganz falschen Begriff bekommen. Ich habe zwar nachgesessen, aber nur, weil die Anita schuld daran war. – Ach, Mutti, das ist eine lange Geschichte.«
»Warum hast du denn kein Unterröckchen an?«
Bärbel schaute an sich nieder, hob das blaue Röckchen auf und blieb für Sekunden stehen. »Siehst du, Mutti«, sagte sie endlich, »daran ist auch die Anita schuld. Der Rock ist noch im Kloster.«
»Du scheinst ja wieder nette Sachen zu machen, Bärbel?«
Das Kind legte der Mutter die Hand auf den Arm: »Bitte, liebe Mutti, warte noch mit dem Schelten ein wenig, ich muß dir erst alles genau erzählen.« Nun wurde die ganze Geschichte von dem Juckpulver berichtet, und Goldköpfchen redete sich schließlich in solche Wut, daß es die Hände zu Fäusten ballte. »In der Schule darf ich mich nicht an ihr rächen, aber, nicht wahr, liebe Mutti, nächstens laden wir sie ein. – Aber dann geht es los!«