»Schafskopp!«
Daraufhin wurde beschlossen, sich von den Zwillingen zu trennen. Martin hatte für heute alle Lust zu dummen Streichen verloren, denn der Bauer hatte kräftig zugeschlagen.
»Ich denke, wir wollen uns erst ’mal stärken«, meinte Bärbel, und Lore kam auf den Gedanken, in den eigenen Garten zu gehen.
»Unsere Pflaumen sind zwar noch nicht blau, aber der Nachbar hat schon reife. Die werden wir kriegen.«
Man zog hin. Der Nachbargarten wurde vom Brunsschen Grundstück aus einer genauen Besichtigung unterzogen. Eine hohe Ziegelmauer trennte die beiden Grundstücke, aber über diese Mauer hinweg hing ein Zweig mit köstlichen gelben Pflaumen.
»Die kriegen wir nicht«, sagte Bärbel. »Der Baum steht zu weit von der Mauer entfernt.«
Sechs Augen gingen sehnsuchtsvoll zu den gelben Früchten hinauf.
»Wenn man auf den Baum steigen könnte, – aber so weit kann man nicht springen.«
Auf der mäßig breiten Mauer spazierten die drei Mädchen und schauten jenseits in den tiefen Graben, der sich an der Mauer entlangzog, hinter dem Baum an Baum stand.
»Hier herunter können wir nicht. Aber man könnte ein Lasso werfen.«
»Mit einem Strick läßt sich der Baum nicht schütteln«, meinte Lore.
»Wenn man etwas gegen den Baum stemmte?«
Nach kurzem Überlegen brachte Lore zwei Wäschestützen heran. »Ich habe eine Idee. Wir stellen uns auf die Mauer, stemmen die Stützen gegen den Baumstamm, das andere Ende gegen uns, und dann versuchen wir den Baum zu schütteln.«
»Wenn ihr nun ausrutscht?« wagte die etwas ängstliche Hanna einzuwenden, »dann fliegt ihr in den Graben.«
»Wir rutschen nicht aus«, meinte Bärbel, »wir haben doch die Stützen.«
Rasch war die Mauer wieder erklommen, Hanna reichte die Stangen hinauf, und nun wurde der Angriff vorgenommen. Beide Stangen wurden an den Stamm des Pflaumenbaumes gesetzt, Bärbel stemmte sich das andere Ende der Stange in die Achselhöhle, Lore tat ein gleiches, und Hanna sollte kommandieren: eins – und eins – und eins. Bei der jedesmaligen eins wollten die beiden mit aller Wucht gegen den Baum stoßen.
Das Kommando ertönte: Eins!
Der Zweig mit den Früchten schwankte zwar, aber keine Pflaume kam herunter.
»Doller«, sagte Bärbel.
»Eins – und eins – und …«
Ein kurzer Aufschrei, Bärbels Stütze war von dem Stamm des Baumes abgeglitten, und gerade, als sie sich mit voller Wucht dagegenstemmte, stürzte sie kopfüber jenseits der Mauer hinab, hinein in den schmutzigen Graben.
»Bärbel!« Lore schrie es entsetzt, verlor die Stange und lag im nächsten Augenblick neben der Freundin. Der Schlamm spritzte hoch auf und überschüttete Bärbel – von oben bis unten.
Triefend kamen die beiden Kinder herausgekrochen.
»Au – oh …« stöhnte Bärbel.
Sofort ließ sie sich unter dem Pflaumenbaume nieder. »Au, – ich kann nicht laufen.«
»Ich blute«, weinte Lore.
Von der anderen Mauerseite rief Hanna verzweiflungsvoll nach den Freundinnen. Schließlich kletterte sie auf die Mauer und sah die beiden schmutzstarrenden und nassen Mädchen.
»Ich glaube, ich habe mir beide Beine gebrochen«, sagte Bärbel. »Au – au – o je – ich blute ja auch!«
Was war nun zu machen? Hanna sprang wieder von der Mauer hinab, lief in ihrer Angst in die Villa, fand ein Hausmädchen und erzählte ihm, daß Lore und Bärbel mit gebrochenen Beinen sich nebenan verbluteten.
»Du lieber Himmel, die gnädige Frau ist nicht zu Hause.«
Das Mädchen und Hanna eilten in den Nachbargarten, machten den Besitzer auf das Vorgefallene aufmerksam, der nun mit Frau und Tochter nach dem Garten ging, um zu sehen, was vorgefallen sei.
Schmutzbedeckt, stöhnend und blutend schauten ihnen die beiden Mädchen entgegen. Beide waren sehr kleinlaut geworden, und während sich Lore erhob, zwar auch ein wenig hinkend, sank Bärbel wieder jammernd zusammen.
»Ins Haus müßt ihr natürlich«, sagte Herr Lattermann. »Ausgezogen müßt ihr werden und euch untersuchen lassen.«
Bärbel wurde getragen, Lore hinkte hinterher. Das Mädchen zog den Kindern die durchnäßten, schmutzigen Kleider ab, ein Arzt wurde gerufen, der bei Bärbel keinen Bruch, aber eine schmerzhafte Sehnenzerrung und zahlreiche Hautabschürfungen feststellte. Lore war besser davongekommen. Sie hatte sich beide Knie und einen Ellenbogen blutig geschlagen, aber sonst war nichts Schlimmes geschehen.
Bärbel mußte nach der Apotheke getragen werden. Es war unmöglich, daß sie einen Schritt laufen konnte. Hanna ging mit, um zu erzählen, welches Unglück die Freundin gehabt habe, die nichts dafür könne, denn an allem nur sei der Pflaumenbaum schuld.
Obwohl Frau Wagner mit ihrer Tochter, die heftige Schmerzen hatte, aufrichtiges Mitleid empfand, machte sie ihr doch Vorwürfe.
»Du bekommst so viel Obst, mein Kind, mußt du in andere Gärten gehen, um zu naschen?«
»Ach, Mutti, – das Obst aus der Schüssel schmeckt lange nicht so gut, als wenn man es sich erarbeitet.«
Frau Wagner war froh, daß kein größeres Unglück geschehen war, denn der Sturz von der hohen Mauer hätte schlimmere Folgen haben können.
Volle acht Tage mußte Goldköpfchen im Bett zubringen, dann erst war die Sehnenzerrung so weit behoben, daß es, wenn auch zunächst an einem Stock, gehen konnte.
… ist der Backfisch ausgekrochen
Wieder einmal stand Goldköpfchen vor den vielen Geschenken, die ihr die Eltern zu ihrem vierzehnten Geburtstage aufgebaut hatten. Mit strahlenden Augen schaute das Kind auf die Bücher und das reichliche Naschwerk, aber am hellsten war der Blick, wenn er auf die Mundharmonika fiel, die es sich endlich erbettelt hatte.
Die Eltern hatten zwar gemeint, daß sich für ein vierzehnjähriges Mädchen eine Mundharmonika und gar eine Trommel nicht schicke; aber schließlich hatte man dem leidenschaftlichen Wunsche doch nachgegeben, und nun lag das schlichte Instrument neben den anderen Geschenken.
Bärbel fühlte sich sehr stolz und froh. Wenn auch die goldene Lockenfülle zur Jungmädchenfrisur gebändigt worden war, wenn auch das Kind trotz seiner vierzehn Jahre noch gar nicht einer jungen Dame ähnelte, so war sie doch stolz auf diese vierzehn Jahre; aber das Schönste von allem war, daß sie bereits ihr Geheimnis hatte.
Von diesem Geheimnis wußten natürlich die Eltern. Sogar die Zwillinge hatten das Erlebnis erfahren, aber sie wagten nicht mehr, zur Schwester davon zu reden, weil sie dann jedesmal von Bärbel eine gehörige Tracht Prügel erhielten, die dabei zitierte: »Wo still ein Herz in Liebe glüht, o rühret, rühret nicht daran!«
Diesem Geheimnis hatte auch die gute Mutter am heutigen Geburtstage Rechnung getragen und Bärbel ein wunderschönes Tagebuch geschenkt. In Gedanken sah Goldköpfchen bereits die vollgeschriebenen Seiten, das Tagebuch sollte ihr zum Freund und Vertrauten werden, denn es drängte sie, über ihren Held Carlos zu schreiben und dem Buche das Herz auszuschütten.
Gegen Mittag wurde für Bärbel ein Rosenstrauß in der Apotheke abgegeben und dazu eine Karte, auf der zu lesen war:
»Gnädiges, liebes Fräulein Bärbel! Gestatten Sie Ihrem Freunde diese Spende zum Geburtstage, die mehr sagt als Worte. Ihr Carlos Schilling.«
»Mutti – Mutti!« Sie hielt Frau Wagner die Rosen entgegen.
»Von wem denn, Bärbel?«
»Ach – frage nicht, Mutti, das ist mein stilles Geheimnis.«