die zur Apotheke hineinführte, drückte die Nase fest an die Scheiben und sah auf den Platz, an dem sonst Onkel Senftleben gestanden hatte.
»Er ist weg«, sagte sie seufzend, »schade um ihn, er war ein ganzer Mann!«
Die Ferien wurden in diesem Jahre daheim verlebt. Herr Wagner konnte nicht fort, da er einen neuen Provisor hatte, außerdem war er der Ansicht, daß eine Sommerreise diesmal nicht notwendig sei. Man hatte einen großen Garten, gute Luft, die Kinder waren alle kräftig und gesund, was brauchten sie mehr!
Aus diesem Grunde hatte man Joachim erlaubt, seinen Freund und Studiengenossen Harald Wendelin mitzubringen.
Der junge Student hatte auf den etwas leichtsinnigen Joachim den denkbar besten Einfluß. Es war eigentlich merkwürdig, daß sich zwei so verschiedene Charaktere in herzlicher Zuneigung fanden, denn Harald stand allein in der Welt, hatte schon vor Jahren beide Eltern verloren und wurde von entfernten Verwandten aufgezogen, die ihm nur mit Murren und sehr spärlich die Mittel zum Studium gaben. So hatte der junge Studiosus sein Schicksal kraftvoll in die eigenen Hände genommen, half sich durch Stundengeben und durch sein vorzügliches Klavierspielen mühsam durch.
Alles das hatte Herr Wagner erfahren und war gleich bereit gewesen, den jungen Studenten für sechs Wochen in seinem Hause aufzunehmen, damit er hier Ruhe und Erholung fände.
Für Bärbel vergingen die Tage wie im Fluge. Schmerzlich war ihr nur, daß sich ihr Carlos gar nicht mehr zeigte. Er schrieb ihr wohl, daß man in Körthenau mitten in der Arbeit stecke, aber die Briefe allein genügten Goldköpfchen nicht. Es trug sich immer wieder mit dem Gedanken, den Freund wiederzusehen.
»Mutti«, sagte Bärbel eines Morgens, »ich habe eine Bitte, kann dir aber nichts verraten. Ich möchte eine Radtour machen. Frage mich nicht, wohin, denn es handelt sich um mein Geheimnis. Ich darf dir nur sagen, daß ich eine rasende Sehnsucht im Herzen habe.«
»Ich würde die Radtour nicht nach Westen hin machen, mein liebes Goldköpfchen, man hat dort wirklich keine Zeit.«
»Ahnst du vielleicht etwas?« fragte Bärbel erstaunt.
»Nein, nein, mein Kind, aber ich denke mir, daß du nach Westen fahren willst. Bezähme deine Sehnsucht und sage dir, daß man stört, wenn man zur Arbeitszeit zu fleißig schaffenden Menschen kommt. Nimm dir dein Tagebuch vor, schreibe deine Sehnsucht hinein, und radle mit Lore woanders hin.«
»Nun gut, Mutti, ich werde meinen Mädchenstolz zu Hilfe rufen und mich noch einmal bezähmen.«
»So ist es recht, Bärbel. Damit ihr beide nun eine recht schöne Tour machen könnt, gebe ich dir auch eine Mark mit. Geh und besprich dich mit Lore, sucht euch keinen zu heißen Tag aus, und dann radelt los.«
An diesem Tage stand im Tagebuche Goldköpfchens zu lesen: »Wenn auch das Herz vor Sehnsucht bricht, mein süßer Freund, ich komme nicht – ich bin aus festem, starkem Holz, es sagte nein, mein Mädchenstolz!«
Als Lore eine Stunde später den Vers las, nickte sie. »Wenn man wüßte, Bärbel, was wir jungen Mädchen für große Opfer bringen, man wurde uns mit mehr Ehrfurcht begegnen. Aber leider behandelt man uns immer noch wie dumme Gören.«
Am 16. Juli trafen Joachim und Harald ein.
»Er sagt mir nicht recht zu«, flüsterte Bärbel der Mutter ins Ohr, »er ist so mager, es fehlen ihm auch die Locken, die Carlos hat. Ich glaube, ich werde mit ihm nie warm werden können.«
»Herr Wendelin ist ein sehr fleißiger und kluger junger Mann, mein Kind, du wirst viel von ihm lernen können.«
»Kluge Männer schätze ich nicht, Mutti. Leute, die immerzu lernen, sind mir geradezu verhaßt. Auch unsere Dichter sagen: man muß das Leben genießen und sich nicht nur in der Arbeit versenken.«
Harald Wendelin eroberte sich sehr rasch die Herzen aller Hausbewohner, nur Goldköpfchen ging mißtrauisch um ihn herum.
»Ich werde ihn erst ’mal auf die Probe stellen«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Läßt er sich zu Dummheiten heranziehen, will ich ihn in den Kreis meiner Freunde einreihen. Wenn er aber weiter so ernsthaft redet, hat er bei mir verspielt.«
»Dein Bruder hat auch schon bei mir verspielt«, sagte Lore ärgerlich. »Denkst du, er hat mir das Taschentuch aufgehoben, das ich heruntergeworfen habe? Er ist ruhig sitzengeblieben. Ich habe eine ganze Weile gewartet, dann habe ich ihm gesagt, daß er vielleicht schon gelernt hat, wie man eine Maschine ölt und einen elektrischen Kontakt in Ordnung bringt, aber von Höflichkeit gegen Damen wisse er gar nichts.«
»Das war fein«, sagte Bärbel strahlend. »Was hat er darauf gesagt?«
»Dummes Mädel! – Mit dem ist es aus!«
»Was machen wir mit dem anderen? Er muß erst erprobt werden.«
»Ob er für uns aus den Kirschbaum steigt?«
»Er soll zu uns kommen und mit der Stange den Pflaumenbaum schütteln. Weißt du noch, Bärbel?«
»Ach nein, Lore, wenn der große, dürre Mensch in den Graben fällt, brechen ihm alle Rippen entzwei.«
»Nun ja – aber was machen wir mit ihm?«
»Ich weiß! – Ich habe eine alte Handtasche, in die schneide ich ein Loch. Dort hinein legen wir Kirschen, und dann gehen wir vor ihm her, und ich lasse die Kirschen langsam herunterfallen. Wenn er sich bückt und die Kirschen aufhebt, ist er ein Kavalier.«
»Und wenn er sie selbst aufißt? – Er sieht so verhungert aus!«
»Dann ist er ein Schuft, und unser gutes Verhältnis ist gestört.«
Gesagt – getan! Als man eines Nachmittags wieder in den Garten ging, füllte Bärbel die zerschnittene Handtasche mit Kirschen und lief der Mutter, die mit Harald hinterher kam, voran.
Die erste Kirsche fiel – die zweite folgte, die dritte –da rief Frau Wagner: »Kind, du verlierst ja deine Kirschen.«
»Ach – wirklich?« klang es heuchlerisch zurück. Bärbel blieb stehen, um zu sehen, ob der Student die Kirschen aufheben werde.
»Aber, Bärbel, wie kannst du so liederlich sein und eine solche Handtasche benutzen. Schäme dich, Kind!«
Goldköpfchen wurde glühend rot. Es warf einen scheuen Blick aus den Studenten und sah, wie auch er die zerrissene Handtasche betrachtete. Da machte das Kind kehrt, lief wie gejagt ins Haus, schleuderte die Tasche in den Winkel und rief:
»Jetzt bin ich auch noch vor ihm blamiert, jetzt wird er mir seine Achtung versagen.«
Im Tagebuch wurde eine ganze Seite damit gefüllt, daß sie den neuen, dürren Studenten aus tiefster Seele haste. Dann ging sie nach der Ecke, wo die Tasche lag, hob sie auf, nahm die Kirschen heraus und aß sie, eine nach der anderen, als Beruhigungsmittel auf.
Obwohl sich Harald Wendelin als ein sehr angenehmer Hausgast zeigte, vermochte Bärbel doch nicht, sich für ihn zu erwärmen. Er war ihr viel zu ernst, lachte wenig und arbeitete sogar in den Ferien. Das war etwas, was sie nicht begriff. Er gefiel ihr nur dann, wenn er sich ans Klavier setzte und spielte. Wie ganz anders klang das Instrument unter seinen Händen, als wenn sie selbst oder die jüngeren Brüder darauf spielten.
Eines Tages kam sie gerade dazu, als Wendelin am Piano saß und phantasierte.
Er hörte auf, als sie das Zimmer betrat.
»Ich habe eine Bitte an Sie«, begann Bärbel schüchtern.
»Sehr gern, Fräulein Bärbel, was wünschen Sie?«
»Sie spielen sehr schön. Wollen Sie mir auch einmal ein Lied vorspielen?«
»Herzlich gern, – was wünschen Sie zu hören?«
Sie kramte in den Noten und legte ihm schüchtern das Lied von Grieg, »Ich liebe dich«, hin. »Es ist sehr schön, und wenn Sie es mit Gefühl spielen, ist es noch viel schöner. Ich kann es nicht.«
Unter seinen