Schiller werden; er hatte ihr verraten, daß er jetzt an einem achtaktigen Schauspiel arbeite, das zum Helden den Cheruskerfürsten Hermann habe und das wahrscheinlich im Dresdener Theater zur Aufführung kommen werde. Bärbel hatte sich lebhaft nach diesem Stück erkundigt und gefragt, ob darin auch für Armin Rabes eine schöne Rolle enthalten sei. Und da ihr der Primaner bestätigte, daß Hermann geradezu eine Bombenrolle sei, ersehnte Bärbel den Augenblick, wo das Schauspiel vollendet sein würde.
Auch die Großmama wußte von diesem Stück, nur mochte sie nicht daran glauben, daß der Cheruskerfürst demnächst in Dresden aufgeführt werde. Bärbel konnte Frau Lindberg nicht davon überzeugen, daß Gerhard Wiese das größte Dichtertalent sei, das gegenwärtig in Deutschland lebe.
»Großchen, ich habe heute übrigens von Gerhard wieder ein Gedicht bekommen. Ich habe es Edith gezeigt, und sie meint, es sei das schönste Gedicht, das sie jemals gelesen habe.«
»So, so, hat er mein Bärbel angedichtet?«
»Ja, Großchen, in den wunderschönsten Ausdrücken!«
»Darf ich das Gedicht nicht einmal sehen, mein Kind?«
Bärbel würgte erst einige Male an einem Bissen, dann sagte sie kleinlaut: »Großchen – es handelt ein wenig von der Liebe.«
»Das kann ich mir denken, Bärbel, aber ein schönes Liebesgedicht hört dein Großchen auch ganz gern.«
»Ich trage es auf dem Herzen.«
»Dann kannst du es mir ja nach Tisch gleich vorlesen.«
»Ich habe schon daran gedacht, Großchen, daß ich es schön abschreibe, auf Elfenbeinpapier. Dann werde ich es Armin Rabes zuschicken.«
»Er könnte dann aber denken, daß du es gedichtet hast, Bärbel.«
»Ach«, sagte der Backfisch schwärmerisch, »wenn er es doch denken wollte! – Großchen, du mußt das Gedicht gleich jetzt hören.«
Bärbel griff in den Halsausschnitt ihres Kleides und zog ein Blatt Papier hervor.
»Also höre, Großchen, was ein bedeutender Dichter zu sagen hat.«
Großchen lehnte sich erwartungsvoll im Stuhl zurück. Bärbel begann mit Pathos:
»Mein Herz, ich will dich fragen:
Was ist die Liebe, – sag?
Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.
Und sprich, woher kommt Liebe?«
Da fiel die Großmama plötzlich ein:
»Sie kommt, und sie ist da.
Und sprich, wie schwindet Liebe?
Die war’s nicht, der’s geschah.«
»Großchen«, rief Bärbel mit weit geöffneten Augen.
»Wer soll der Dichter sein, Bärbel?«
»Gerhard Wiese, Großchen!«
»In meiner Zeit hieß der Dichter Friedrich Halm.«
Eine Weile war Bärbel starr. Dann sagte sie fragend:
»Abgeschrieben? – Gestohlen?«
»Ich will dir nachher einen Band Gedichte geben, mein liebes Kind, in dem das ganze Gedicht zu finden ist.«
»So ein Schurke!« rief Bärbel entrüstet. »Dabei hat er mir zugeflüstert, er hätte es heute nacht gedichtet.«
»Da hat er dich freilich ein wenig bemogelt. Hoffentlich schreibt er seinen Cheruskerfürsten nicht auch irgendwo ab.«
»Großchen, du treibst mir einen Pfeil ins Herz, – ich finde das empörend. Ich habe bereits siebzehn andere Gedichte von ihm. – Ob er die auch alle abgeschrieben hat?«
»Nun, vielleicht hat er einige davon selbst gedichtet.«
»Und ich habe an sein Genie geglaubt. – Großchen, kennst du alle Gedichte?«
»Nein, Bärbel, das ist ganz unmöglich!«
»Wehe ihm, wenn er die anderen auch abgeschrieben hat! – Großchen, es ist eines darunter, das habe ich auswendig gelernt, weil es so wundervoll ist.«
»Sage es einmal her, vielleicht ist es mir bekannt.«
Und Bärbel begann:
»Du schönes Dillstädter Mädchen,
Treibe den Kahn ans Land,
Komm zu mir und setze dich nieder.
Wir kosen Hand in Hand.«
»Freilich, kenne ich das, Bärbel. Das Gedicht ist von Heinrich Heine. Nur heißt es bei ihm nicht Dillstädter Mädchen, sondern Fischermädchen.«
»Das ist doch arg! Dann hat er die anderen auch gemopst, denn sie sind in Form und Sprache alle so wunderschön. Na, den will ich blamieren. Vor der ganzen Prima kriegt er sein Fett! Der darf mich nicht mehr andichten. – Ach, Großchen, es gibt doch heute zu viel Betrug auf der Welt!«
»Er hat es gewiß gut gemeint. Nett ist es natürlich nicht von ihm, daß er sich mit fremden Federn schmückt.«
»Ich verachte ihn«, sagte Bärbel hoheitsvoll, »wir beide sind fertig! Wenn er jetzt vor mir die Mütze zieht, bekommt er nur einen durchbohrenden Blick.«
Als Bärbel nach dem Essen in ihrem Zimmer saß, um sich zunächst den Schulaufgaben zu widmen, kamen ihr wieder die Gedanken an den betrügerischen Dichter. Sie eilte zur Kommode und nahm daraus ein Päckchen, das sorgsam mit einem roten und einem blauen Bändchen umwickelt war.
Dann las sie nochmals die Gedichte durch, die Gerhard Wiese für sie geschrieben haben wollte. Manche waren ihr allerdings schon früher ein wenig bekannt erschienen. Jetzt stand es für sie felsenfest, daß alle abgeschrieben waren.
Sie wickelte die Gedichte wieder zusammen, aber das rote Bändchen ließ sie fort.
»Rot ist die Liebe«, sagte sie vor sich hin, »du hast es nicht verdient, daß mein Herz auch nur ein klein wenig für dich schlägt.«
Ihre Blicke glitten weiter über den Inhalt des Schubfaches. Wohlgeordnet lagen hier verschiedenfarbig zusammengebundene Päckchen. Eines fiel besonders auf. Ein breites rotes Band war kreuzweise über einige Postkarten gebunden.
Andächtig nahm Bärbel dieses Päckchen zur Hand.
»Armin Rabes«, flüsterte der niedliche Backfisch, »du bist doch der Herrlichste von allen!«
Dann wurde ein schneller Kuß auf das breite rote Band gedrückt, das Päckchen wanderte auf seinen Platz zurück. Nachdenklich schweiften die blauen Mädchenaugen über ein anderes Paket. Bärbels Hände strichen über das rosa Bändchen.
»Er hat mich einst geliebt, – aber das Rot seiner Liebe ist heute verblaßt. – Weißt du es noch, Carlos Schilling, wie du mir das Stück Blutwurst schenktest, und wie ich es daheim in der Blechbüchse verschloß, bis es so stank, daß ich es fortwerfen mußte? Ach, es waren selige Zeiten, als du damals auf dem Gute warst! Aber andere Männer sind nun in mein Leben getreten, und doch, Carlos, du bist noch nicht vergessen.«
Bei diesen Gedanken an den einstigen Eleven des Gutes Körthenau kam auch die Erinnerung an jene übermütigen Stunden daheim. Was hatte sie mit den Brüdern, den Zwillingen, nicht alles angestellt! Erst gestern hatte sie eine Karte von den beiden Buben erhalten, man hatte angefragt, ob sie nicht bald wieder heimkäme.
Bärbel schüttelte traurig den Kopf.
»Noch nicht«, murmelte sie, »die Pflichten halten mich hier fest. Aber in zehn Wochen ist Weihnachten, dann geht es heim!«
Neben all diesen Päckchen lag ihr Tagebuch. Die Mutter hatte es ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstage geschenkt, und die erste Eintragung hatte dem Freunde Carlos gegolten, von dem überhaupt auf den ersten Tagebuchseiten fast ausschließlich die Rede war. Oh, Bärbel