Tagebuch prangte dafür die Eintragung:
Wenn auch das Herz vor Sehnsucht bricht.
Mein süßer Freund, ich komme nicht.
Ich bin aus festem, starkem Holz,
Es sagte Nein mein Mädchenstolz!
Die schlanke Mädchengestalt straffte sich. »Richtig, Bärbel«, sagte der goldlockige Backfisch vor sich hin, »es ist sehr zweckmäßig, wenn der Mädchenstolz zeitweise Nein sagt. Und Gerhard Wiese soll meinen Mädchenstolz zu fühlen bekommen. Ich lasse mich doch von solch einem Affen nicht dumm machen!«
Bärbel schlug die letztbeschriebene Seite des Tagebuches auf.
»Ach, daß ich ihm wieder in die Augen sehen könnte! Diese Augen sind wie zwei Sonnen. Sie können glühen wie der Krater des Vesuv!«
Sie drückte das Tagebuch leidenschaftlich an sich und tanzte damit durch das Zimmer.
»Ich habe ihn gesehen, er hat mich angelächelt! Oh, seit ich ihn gesehen, glaub’ ich blind zu sein! – Wenn ich doch schon die verflixte Mathematikaufgabe beendet hätte, damit ich von ihm schwärmen kann!«
Bärbel legte das Tagebuch wieder zur Seite, nahm erneut das Schulheft zur Hand, kaute dann eine Weile an dem Federhalter; aber die Zahlen, die vor ihr standen, wollten heute keinen festen Fuß in ihren Gedanken fassen.
»O Armin – Armin, welch ein Blick,
Der Teufel hole die Mathematik!«
Nein, heute ging es wahrhaftig nicht. Ein Seufzer nach dem anderen war zu vernehmen. Immer tiefer und schwerer entrangen sie sich Bärbels Lippen. Die Augen wunderten ununterbrochen zum Fenster hinaus. Und wenn sie auch nur auf den Hof schauten, es gab dort doch allerlei, was die Gedanken von der Arbeit ablenkte. Die Uhr rückte unerbittlich vorwärts, und noch immer saß das junge Mädchen vor den Heften, ohne die Lösung der Ausgabe zu finden.
Jetzt rief das Hausmädchen zum Kaffeetrinken. Frau Lindberg sah den unglücklichen Ausdruck in dem frischen Gesicht der Enkelin und fragte teilnehmend, was wieder einmal los sei.
»Ach, Großchen, es ist heute wahrhaftig zuviel auf mich eingestürmt. Ich werde mit meinen Schularbeiten nicht fertig. Ich muß immerfort an den seelenvollen Blick aus einem feurigen Auge denken.«
»Das ist aber ganz verkehrt, mein liebes Bärbel. Nimm dich zusammen, mein liebes Kind. Heute abend kannst du mir dann mehr von deiner Schwärmerei erzählen.«
»Und dann dieser Schurke, Großchen!«
Frau Lindberg lachte belustigt auf.
»Da siehst du nun wieder einmal, Bärbel, daß alles einmal ans Licht der Sonne kommt, und daß es das beste ist, stets ehrlich zu sein. – Mache dem armen Jungen die Hölle nur nicht gar zu heiß. Sage ihm, daß du seine Gedichte bereits in gedruckten Büchern hättest. Ich habe dir dort einen Gedichtband hingelegt. Es ist Heines ›Buch der Lieder‹, in dem auch das ›schöne Fischermädchen steht‹.«
»Das Buch nehme ich morgen mit und halte es ihm unter die Nase. Dann bin ich wirklich neugierig, was er für ein dummes Gesicht dazu machen wird.«
Als Bärbel dann mit dem Buche in ihr Zimmer zurückkehrte und flüchtig darin blätterte, entdeckte sie plötzlich, daß noch drei andere Gedichte darin enthalten waren, die Gerhard Wiese als sein geistiges Eigentum ausgegeben hatte.
Hastig riß sie aus ihrem Schulhefte eine Seite heraus, überlegte wenige Minuten, dann schrieb sie den folgenden Vers:
»Ich will nichts mehr von deiner Liebe,
Du wurdest zum elenden Diebe!
Nimm deine Gedichte alle wieder.
Ich fand sie in Heines ›Buch der Lieder‹!
Die Neigung zu dir ist verpufft.
Von nun an bist du für mich Luft.«
Der Backfisch war mit dieser Leistung vollauf zufrieden. Wenn Bärbel auch fühlte, daß ihre Dichtkunst nicht hervorragend war, ersah Gerhard doch daraus, daß sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Sie nahm sich vor, von jetzt an den langen Hans Herwig freundlicher anzusehen als bisher. Man hatte ihr schon immer gesagt, daß Herwig sie verehre. Edith hatte ihr berichtet, daß er erst kürzlich zu seinen Mitschülern gesagt habe: wenn ich Bärbel ansehe, dann ist es mir, als sähe ich ein goldenes Ährenfeld und eine grüne Wiese. Auf goldenem Haupte die grüne Mütze. Dieser Ausspruch hatte Bärbel ganz gewaltig imponiert. Hans Herwig saß zwar trotz seiner siebzehn Jahre noch in Untersekunda, aber er erschien allen Backfischen ziemlich interessant, weil man auf seiner Oberlippe schon dunkle Härchen bemerkte, die die anderen Sekundaner nicht aufzuweisen hatten.
Es war doch zu herrlich, daß das Kant-Gymnasium in derselben Straße lag, in der sich auch das Mädchengymnasium befand. Auf diese Weise hatte man immer Gelegenheit, nach Schulschluß ein paar zärtliche Blicke tauschen zu können. Mitunter glückte es auch, daß man in der Papierhandlung vom alten Papa Rippelmann einen oder den anderen der Kant-Schüler traf, wenn man schnell in der Pause ein Heft oder einen Bleistift besorgte.
Nun, auf jeden Fall kam Hans Herwig, der lange Schwarze, nach Schulschluß als einer der Ersten am Mädchengymnasium vorbei und blieb dann stets gegenüber vor der Konditorei so lange stehen, bis die Tertianerinnen erschienen. Gleich morgen sollte Hans Herwig einen besonders freundlichen Blick von ihr erhalten. Er war bestimmt kein Dieb, dazu hatte er viel zu ehrliche Augen.
Als die Mathematikaufgabe endlich gelöst war, klappte Bärbel das Heft erleichtert zusammen. Dann holte sie ihr Tagebuch hervor, und fünf Seiten wurden mit einem schwärmerischen Erguß bedeckt, der damit endete: »Ach, Mortimer, ach, Armin, du mein zukünftiger Räuberhauptmann, die Stunde kehrt wieder, in der unsere Augen ineinandertauchen.«
Doktor Rollmops
Das war ein Kichern und Lachen in der Obertertia, wie man es lange nicht mehr gehört hatte. Die Schülerinnen hatten sich gewaltig zusammennehmen müssen, um dem Ordinarius, Herrn Doktor Gerlach, nicht ins Gesicht zu lachen.
Es war aber auch zu komisch, daß ein Hering von nun an in der Obertertia den Geschichtsunterricht erteilen sollte. Studienrat Simoni war schwer erkrankt, hatte einen halbjährlichen Urlaub nehmen müssen; so war, kurz nach Beginn des zweiten Halbjahres, Herr Doktor Hering berufen worden, um in der Klasse den erkrankten Kollegen zu vertreten.
»Kinder, ich platze vor Lachen«, rief Bärbel in der Pause. »Der Hering kommt!«
»Hering in Gelee!«
»Doktor Rollmops!«
»Habt ihr ihn schon gesehen?«
»Zwei Meter neunzig, – Gewicht: neunundneunzig Pfund, – Stiefel: Nummer 36. – Kinder, das ist ein Unikum!«
»Was sollen wir denn mit dem Doktor Rollmops anfangen?«
»Wenn er doch erst käme!«
So tönte es durcheinander. Die ganze Klasse befand sich in fieberhafter Spannung, niemand kannte den neuen Vertreter; alles waren nur Vermutungen, und doch hatte man munkeln gehört, daß Doktor Hering ein ganz frischgebackener Studienrat sei, der wegen seiner Größe und Magerkeit in Dresden bekannt wäre.
»Wenn ihn der Ordinarius bringt, wenn er ihn uns vorstellt, – Kinder, Kinder, ich lache mich tot«, kicherte Bärbel. »Du hast einen breiten Rücken, Valeska, ich verkrieche mich hinter dich. – Kinder, Kinder, ich stopfe mir das ganze Taschentuch in den Mund!«
»Wehe dir, Bärbel, wenn du loslachst!«
»Doktor Rollmops, – hahaha! Wir werden ihn mit Zwiebeln werfen, mit Pfefferkörnern!«
»Wir werden ihn ärgern, daß er schwitzt!«
»Dann wird aus dem Hering ein Brathering!«
Die Glocke läutete. Sekundenlang herrschte Totenstille in der Klasse, darauf begann das unterdrückte Kichern erneut.
»Jetzt kommt er – der Ordinarius bringt ihn!