Magda Trott

Goldköpfchen Gesamtausgabe (Alle 13 Bände)


Скачать книгу

– mein Gewerbe ist Rache!«

      Die Hand, die die Büchermappe hielt, fuhr nach rechts weit aus.

      Ein Schrei, Bärbel hatte mit der Tasche einem alten Herrn mitten ins Gesicht geschlagen.

      »Was soll das heißen!«

      Bärbel war völlig benommen. Die Worte der Entschuldigung fielen ihr im Augenblick nicht ein, nur die Worte des Räuberhauptmanns: »Rache, Rache ist mein Gewerbe.«

      Als sie dann die zornigen Augen des alten Herrn sah, lief sie im Sturmschritt davon. Erst an der nächsten Straßenecke wandte sie sich nochmals um und sah, daß der alte Herr an seiner heruntergefallenen Brille putzte.

      In der Pause wurde der gefaßte Plan von den Schülerinnen der Obertertia nochmals gründlich durchgesprochen. Acht junge Mädchen hatten sich gefunden, um die Entschuldigung vor Doktor Rollmops anzubringen. Bärbel wollte die Letzte sein. Sie wollte ihre Entschuldigung recht zart flöten, damit Doktor Rollmops wirklich sah, daß es sich hier nur um ein niedliches Späßchen handelte.

      Die anderen Mitschülerinnen harrten gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Doktor Hering stellte fest, daß heute viele Schülerinnen fehlten. Aber er begann doch mit dem Unterricht. Da öffnete sich die Tür, und Edith Scheffel trat als erste ein.

      »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

      »Setz dich!« klang es barsch zurück.

      Dann ging die Stunde weiter. – Wieder öffnete sich die Tür; Helene Almer kam herein.

      »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

      Doktor Hering zog die Brauen hoch und sagte noch herrischer als zuvor: »Setz dich!«

      Die Dritte, die Vierte erschien. Aber als die Fünfte die gleiche Entschuldigung hervorbrachte, rückte Doktor Hering auf seinem Stuhl unruhig hin und her, während Edith Scheffel kaum das Lachen meistern konnte.

      Gabriele Langen kam als Sechste.

      »Bitte, entschuldigen Sie …«

      »Schon gut – setz dich!«

      Wie die Stimme des Rollmopses zitterte, wie er das Buch ganz dicht an die Nase hob.

      »Er wird rot«, flüsterte Edith, »gleich wird er vor Wut platzen.«

      »Wir fahren fort«, grollte es hinter dem Buche hervor.

      »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

      Marion erhielt keine Antwort.

      Die sieben Missetäter zappelten voller Ungeduld mit den Füßen. Jetzt fehlte nur noch Bärbel, die als letzte ihre Entschuldigung anbringen sollte.

      »Wir kommen nun zu Numa Pompilius, dem Nachfolger des ersten römischen Königs. Nachdem Romulus …«

      Die Tür öffnete sich. Doktor Hering verstummte und fuhr wie vom Schlage gerührt herum. Er hatte geglaubt, daß nun alle Schülerinnen vollzählig wären, hatte sich mühsam wieder gefaßt. Und nun kam noch eine, gerade jene, die ihn bei seinem Antritt am meisten ausgelacht hatte.

      Bärbel machte ihr süßestes Gesicht.

      »Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor.«

      Da traf sie ein Blick aus seinen Augen, so jammervoll, so tief unglücklich, daß Bärbel für wenige Augenblicke den Faden verlor.

      »Ich – ich wußte nicht …« stammelte sie.

      Dann schlug sie die Augen nieder. Der arme Doktor Rollmops tat ihr jetzt furchtbar leid. Der Onkel hatte recht, er war in tiefster Seele schüchtern, denn er fühlte sich in diesem Augenblick verspottet und verlacht.

      »Bitte, entschuldigen Sie«, murmelte sie, »daß ich jetzt erst komme«, und dann setzte sie mit einem treuherzigen Augenaufschlag hinzu: »Ich komme aber nicht wieder so spät.«

      Sie sah das Zucken seiner Lippen, sie hörte das mühsam hervorgestoßene »Setz dich!« Und während alle anderen Schülerinnen kicherten, hatte Bärbel das Gefühl, als müsse sie sich in tiefster Seele schämen.

      Sie wollte heute durch doppelte Aufmerksamkeit die Scharte auswetzen. Aber da stieß sie Edith an und flüsterte:

      »Ich gehe heute abend auch in die ›Räuber‹«.

      Verflogen waren alle Gedanken an Romulus, Remus und Numa Pompilius, durch Goldköpfchens Gedanken zogen nur die Worte ihres Karl Moor: »Ich fühle eine Armee in meiner Faust, Tod oder Freiheit, sie sollen keinen lebendig haben!«

      Von Räubern, Zigaretten und Schlagsahne

      »Du darfst mir nie wieder ins Theater gehen, Bärbel, wenn du weiterhin so zerstreut bist. Auch in der Schule klagt man über dich, das geht nicht! Erst kommen die Pflichten, dann das Vergnügen. Wenn du heute deine Aufgaben nicht sehr gut erledigst, schicke ich Edith, die dich nachher besuchen will, wieder heim.«

      Mit niedergeschlagenen Augen hörte Bärbel die strengen Worte der Großmutter an.

      Ach, diese ahnte ja nicht, wie es in dem Herzen des jungen Mädchens tobte. Eigentlich war das Lernen ein Unsinn. Karl Moor hatte auch alles über den Haufen geworfen und war in die Wälder gegangen. Ach – Karl Moor!

      Die Vorstellung der »Räuber« hatte einen gewaltigen Eindruck auf das junge Mädchen gemacht. Schluchzend war Bärbel der Großmutter am Abend um den Hals gefallen und hatte erklärt, es sei eine Ungerechtigkeit der Regierung, derart edle Leute zu verurteilen und Schurken großzuziehen. Man müsse unter solchen Verhältnissen unbedingt ein Räuberhauptmann werden, es sei das einzig Richtige, wenn sich so edle Männer, wie Karl Moor und Kosinsky, zusammenschlössen, um die Armut zu beschützen und das Edle emporzuheben.

      Bärbel hatte bitterlich geweint. Plötzlich hatte sie zu Frau Lindberg gesagt:

      »Sage doch wenigstens auch einmal zu mir: du weinst, Amalie! Ach, Großchen, wie er das gesagt hat, – eine Welt von Mitleid lag in diesen Worten.«

      »Jetzt hörst du auf zu weinen, Bärbel«, hatte Frau Lindberg erwidert.

      »Großchen, ich muß ihn wiedersehen, koste es mein Leben!«

      »Mach dich nicht lächerlich, Bärbel. Armin Rabes ist ein Mensch wie jeder andere, den du wohl aus der Entfernung ein wenig anschwärmen darfst, doch muß das nicht zu weit gehen. Ein Schauspieler ist leicht geneigt, kleine dumme Backfischchen auszulachen.«

      Seufzend beugte sich Bärbel über die Schulhefte. Sie wußte, Großchen machte ernst, und gerade in den letzten Tagen war von ihr manche schlechte Arbeit abgeliefert worden. Aber Edith durfte nicht fortgeschickt werden. Mit Edith mußte sie nochmals alles durchleben. Gemeinsam wollte man von Armin schwärmen, und gerade heute konnten sie die »Räuber« mit verteilten Rollen lesen, denn Großchen ging zu Bekannten und wollte erst zum Abendessen wieder zurück sein.

      So nahm sich Goldköpfchen sichtlich zusammen und bewältigte in überraschend kurzer Zeit die gestellten Aufgaben. Frau Lindberg sah sich die Hefte an und war zufrieden.

      »So, Bärbel, nun magst du mit Edith schwärmen, soviel du willst. Aber bitte, nichts übertreiben!«

      Edith Scheffel war gekommen, und Frau Lindberg hatte die beiden jungen Mädchen im Schutze ihrer treuen Anna zurückgelassen.

      »Sie brauchen nicht ins Zimmer zu stürzen, Anna, wenn die beiden toben und schreien. Sie spielen heute Theater, und unser Bärbel macht sicher den Räuberhauptmann.«

      »Ich weiß schon, gnädige Frau! Bärbel hat in den letzten Tagen so viel nach Freiheit geschrien, daß ich darauf nicht mehr reinfalle.«

      Nun hockten die beiden Freundinnen dicht beisammen und ließen mit verzückten Blicken die gesehene Aufführung nochmals an ihrem Geiste vorüberziehen.

      Plötzlich sprang