»O, es ist so schön dort, die Wellen erzählen herrliche Geschichten.«
»Hier ist es aber noch viel schöner,« sagte eine der Mitschülerinnen.
Pommerle schüttelte energisch den Kopf. »Am schönsten ist es doch an der großen Ostsee.«
»Nein, in den Bergen!«
Pommerle blickte erstaunt auf.
»Du kennst unsere Berge wohl noch gar nicht? Du bist sicher noch nicht hinaufgestiegen.«
Pommerle erwiderte nichts mehr darauf. Aber es kam sich plötzlich recht verlassen vor. Die Sehnsucht nach der See tauchte wieder riesenhaft auf. Alle die Kinder, die hier umherstanden, wußten ja gar nicht, wie schön es am Strande war. Was nützte es, wenn man ihnen davon erzählte. Sie hatten noch niemals das Meer rauschen hören und konnten nicht wissen, was es für wunderschöne Märchen berichtete.
Der Gedanke, daß es hier unter den vielen Mitschülerinnen nicht eine einzige gab, mit der Pommerle vom Wasser erzählen konnte, drückte die Kleine sehr nieder. Sie blieb daher scheu und in sich gekehrt, ging den kleinen Mädchen aus dem Wege; und bald hieß es in der Klasse, daß Pommerle gar nicht zu ihren Mitschülerinnen passe, und so ließ man es einfach links liegen. Das schmerzte das kleine Mädchen tief, es versuchte aufs neue sich den Schulkameradinnen zu nähern, aber es kam doch nicht so weit, daß Pommerle eine Schulfreundin fand.
So blieb denn die Kleine meistens für sich allein. An die Pflegeeltern schloß es sich mit immer größerer Liebe an, es fühlte, daß es der Professor und seine Frau unendlich gut mit ihm meinten. Ihm war am wohlsten, wenn es neben der Tante saß, seinen Kopf in ihren Schoß legte und ihr vom Meer und dem weißen Strande erzählen konnte.
Dann kam es allerdings häufig vor, daß sich Pommerle plötzlich aufrichtete und die sehnsüchtige Frage stellte:
»Tante, fahren wir bald an die See?«
»Wir wollen doch erst einmal in die Berge hinauf, sie sind auch wunderbar schön, Pommerle.«
»Ja, Tante, wir wollen aus die Berge hinauf, damit ich ganz, ganz weit sehen kann!«
»Warum bringst du dir niemals eine kleine Freundin mit, mein Kind, ihr könntet im Garten so schön spielen.«
»Ich möchte mit der Grete Bauer und der Elli Götsch spielen.«
»Sind in deiner Klasse nicht auch nette Mädchen?«
»Sie sind so anders,« sagte Pommerle tief aufseufzend, »sie kennen auch alle die Ostsee nicht.«
»Das macht doch nichts, mein Kind. Sei nur immer recht lieb und nett zu deinen Mitschülerinnen, damit sie dich auch recht lieb gewinnen.«
»Das will ich, Tante!« –
Auch der Professor beschäftigte sich viel mit dem kleinen Mädchen. Er zeigte ihm seine Steinsammlung und erklärte dem Kinde die verschiedensten Gesteinarten, die man in der hiesigen Gebirgsgegend fände. Besonderes Interesse erweckte der große Bücherschrank in Pommerle. Was für wunderschöne Bilder gab es in den verschiedenen Büchern zu sehen! Die Kleine hatte gehört, daß der Onkel selbst solche Bücher schrieb, und so schaute es alle seine Bücher voller Ehrfurcht an.
Pommerle wies jetzt auf mehrere eng beschriebene Bogen, die auf dem Schreibtische des Onkels lagen:
»Was schreibst du denn jetzt wieder für ein feines Bilderbuch?«
»Die Flora und Fauna des Riesengebirges.«
Das verstand Pommerle freilich nicht. Der Professor mußte ihm erst erklären, daß dies ein Buch sei, in dem alle Blumen, die im Riesengebirge wachsen, und alle Tiere, die sich hier zeigten, auch die kleinen Lebewesen, die im Geröll lebten, beschrieben würden.
»Woher weißt du denn das alles?« fragte Pommerle erstaunt.
»Ich gehe oft in die Berge, mein kleines Töchterchen, und dann suche ich emsig, ob ich etwas Neues finde. Auch über die vielen merkwürdigen Gesteine, die wir hier haben, schreibe ich ein Buch. Schau einmal rasch durch das Fenster. Der Junge, der dort soeben vorüber geht, bringt mir oftmals einen interessanten Stein oder einen Käfer.«
Pommerle eilte ans Fenster. Es sah auf der Straße einen etwa vierzehn Jahre alten Knaben vorübergehen, lang aufgeschossen, aber mager. Er trug einen schlechten Rock, auf dem rötlichen Haar saß eine unsaubere alte Mütze, das Gesicht hatte einen pfiffigen Ausdruck.
»Schreibt der auch solche Bücher?«
»Nein, Kleines, das ist der Julius Kretschmar, ein fauler Schlingel, der sich tagelang in den Bergen umhertreibt, nichts rechtes gelernt hat, der sich aber hin und wieder ein bißchen Geld verdient, denn im Sommer trägt er das Gepäck der Fremden, macht auch zuweilen den Führer, und mir bringt er hin und wieder Steine, Blumen oder Käfer, die er in den Bergen findet und die ihm nicht alltäglich erscheinen.«
»Ich werde dir auch Blumen bringen, Onkel.«
»Gewiß, mein Pommerle, wenn erst der Frühling wieder ins Land kommt, wandern wir in die Berge. Jetzt ist es zu rauh für dich.«
»Dann sehen wir nach dem Meer aus!«
Das war seit langem zum ersten Male ein Erinnern an die Heimat.
Der Professor lenkte das kleine Mädchen rasch von diesem Gedanken ab.
»Jetzt wollen wir einmal den Julius rufen, ob er etwas für mich hat.«
Schon hatte Professor Bender das Fenster geöffnet und rief hinter dem Burschen her:
»Heda, Jule!«
Der Angerufene wandte sich um und kam, die Hände in den Hosentaschen, langsam näher, von oben bis unten musterte er das kleine Mädchen.
»Nanu, wer ist denn das?«
»Man sagt guten Morgen, Jule, hast du das immer noch nicht gelernt?«
»Wohnt die jetzt mit hier?«
»Jawohl, das ist unser kleines Pommerle. Hannchen heißt sie, damit du es weißt.«
»Hannchen Pommerle, – ist das ein verrückter Name.«
»Hanna Ströde heiße ich.«
»Was willst du denn hier?«
»Du sollst dem Hannchen ein paar hübsche Blumen aus den Bergen bringen.«
»Der Enzian ist längst verblüht.«
»Wirst auch was anderes finden, Jule. Unser Pommerle kennt das Gebirge nicht. Das kleine Mädchen kommt von der See. Von der Ostsee. Davon weißt du hoffentlich noch was.«
»Freilich.«
»Na, na, wo ist denn die Ostsee?«
Jule drehte einige Augenblicke die Mütze zwischen den Händen, dann sagte er stockend: »Dort, wo Amerika liegt.«
»Schäme dich, Jule, aber in der Schule hast du ja immer geschlafen.«
Hanna Ströde lachte über das ganze Gesicht.
»Na, du bist aber dumm,« sagte sie. »Die Ostsee ist doch bei uns in Pommern.«
Jule fuhr verletzt auf.
»Weißt du, wo die Kochel fließt und wo die Leischnerbaude liegt?«
»Nein.«
»Na, – dann bist du noch viel dümmer! Hahaha, sie weiß nicht mal, wo die Kochel fließt.«
»Sei nicht wieder frech, Jule,« verwies der Professor den Knaben. »Hast du nichts Nettes für mich gefunden?«
»Freilich hab ich.«
Der Bursche griff in die Hosentasche, zog einen Strick heraus, dann eine verbeulte Zigarettenschachtel, einen Zigarrenstummel und schließlich zwei größere Steine, die mit eigenartigen Moosen bedeckt waren, prüfend nahm der Professor die Steine in die Hand.
»Ich