nicht sogleich darauf achtete, schob er ihm die Mütze dicht unter das Gesicht.
»Wo hast du denn diese Steine gefunden?«
»In der großen Schneegrube.«
»Jule, das ist nicht wahr!«
»Na, dann dicht daneben,« erwiderte der Knabe kleinlaut. Der Professor holte ein Fünfzigpfennigstück aus der Tasche legte es ihm in die Mütze. Jule griff danach, stieß die Unterlippe vor und sagte gedehnt:
»Viel ist es nicht.«
»Mehr ist dein Moos nicht wert, Junge, den zweiten Stein kannst du wieder mitnehmen, den brauche ich überhaupt nicht.«
Jule Kretschmar brummte etwas Unverständliches, setzte die Mütze wieder auf und ging davon.
»Jule!« Erregt rief der Professor hinter ihm her.
»Na?« fragte der Knabe mürrisch.
»Komm noch einmal zurück. – Wie sagt man, wenn man sich verabschiedet?«
»Wenn's weiter nischte is!«
»Kann man dir denn gar keinen Anstand beibringen! Noch eins, Jule. Jetzt zeigst du Hannchen den Weg zum Papierhändler. Dort bringst du mir, mein liebes Pommerle, zehn große weiße Briefumschläge, hier hast du Geld.«
Die beiden Kinder eilten davon. Auf der Straße blieb Jule stehen und betrachtete das kleine Mädchen prüfend.
»Wo kommst du denn eigentlich her?«
»Aus Pommern, von der Ostsee.«
»Und was willst du hier?«
»Was lernen.«
Jule kraute sich den Kopf. »Da wäre ich doch lieber in Pommern geblieben. Dort braucht man nichts zu lernen, nicht wahr? – Sind deine Eltern auch hier?«
»Nein, – meine Eltern sind im Himmel.«
Jule schaute zum Firmament empor.
»Hm,« sagte er nachdenklich.
Man war noch ewige Schritte weitergegangen, da blieb der Knabe wieder stehen. »Kannst du schmeißen?«
»Was denn?«
»Siehst du dort oben auf dem Dache die Wetterfahne? Ich schmeiße jetzt mit dem Stein danach.«
»Darfst du das tun?«
»Ich darf alles.« Und schon nahm Jule den Stein, der von Professor Bender verschmäht worden war, und schleuderte ihn gegen die kleine Blechfahne, die auf dem Dache eines der niedrigeren Häuser angebracht war. Er traf sie nicht, suchte sich einen zweiten und dritten Stein, und nun begann ein regelrechtes Bombardement.
»Was fällt dir denn ein, Bengel, mit Steinen zu werfen!«
Vor Jule stand ein älterer Herr, der die Kinder mit grimmigen Blicken musterte. Der Fremde hatte aber noch nicht ausgesprochen, da machte Jule kehrt und lief mit langen Sätzen davon, Pommerle ließ er einfach stehen.
Das kleine Mädchen mußte nun den Zornesausbruch des erregten Mannes über sich ergehen lassen.
»Ich habe doch nicht geworfen,« erwiderte es treuherzig, »der Jule hat geworfen.«
Der alte Herr ging ärgerlich weiter, Pommerle aber stand allein in der Straße und mußte sich nun bei vorübergehenden nach dem Papierladen zurechtfragen, um die Einkäufe zu erledigen. In dem Laden aber lagen Ansichtskarten, auf denen waren Schiffe abgebildet.
Da erstand vor des Kindes Augen ganz plötzlich wieder das Meer mit seinen Fahrzeugen, heiß stieg es ihm in die Augen, aber es wollte nicht weinen. Rasch lief es zurück in sein Heim, händigte dem Onkel die Briefumschläge aus, ging dann aber in sein kleines Spielzimmer, setzte sich still in die Ecke und dachte zurück an die Zeit, in der es an jedem Tage kleinere und größere Schiffe gesehen hatte, und das brennende Verlangen wuchs in ihm empor, zurück nach Pommern zu gehen, um wieder das weite Meer rauschen zu hören.
Da Pommerle nicht zum Abendbrot erschien, begab sich Frau Bender ins Kinderzimmer, um nach dem kleinen Mädchen zu sehen. Hanna saß zusammengekauert in einem Stuhl, über das Gesicht liefen noch die Tränen.
»Pommerle, mein liebes Pommerle, was ist geschehen?«
»Ich habe die See gesehen,« schluchzte das Kind, »und nun drückt's mich im Herzen!«
»Wo hast du die See gesehen, Pommerle?«
»Im Laden, – – in dem ich war. – – Auf dem Bilde, – – o, so blau war sie, – so ist sie auch gewesen, damals, ehe sie grau und böse wurde, ehe ich fort mußte!«
Frau Bender nahm die Kleine auf ihren Schoß.
»Bist du denn gar nicht gerne bei uns, Pommerle?«
»Ich möchte zurück!«
»Sieh, mein Kind, wir haben dich doch so lieb. – Aber wenn du gar nicht gern hier bist, macht uns das furchtbar traurig. Wir wollen doch ein fröhliches kleines Mädchen haben, du aber sitzest hier und weinst. – Da wird deine Tante auch weinen müssen, Pommerle, denn es tut ihr im Herzen sehr weh, wenn sie weiß, daß du nicht gerne bei uns bleiben willst.«
Die Kleine richtete seine blauen Augen erschreckt auf die Tante.
»Es tut dir weh, Tante? Bin ich denn so sehr ungezogen?«
»Nein, Pommerle, ungezogen bist du gar nicht.«
»Warum tut es dir dann aber weh, Tante?«
»Weil du wieder von uns fortgehen willst, Pommerle, weil du gar nicht fühlst, daß wir dich auch herzlich lieb haben!«
»Du bist also traurig, wenn ich sage, daß ich weg will? Du mußt weinen, wenn ich sage, daß die See viel schöner ist als die Berge?«
»Ich möchte, daß es dir bei uns so recht gut gefällt, Pommerle, und daß du uns so lieb hast, wie du einst Tante Berta und deinen Vater gehabt hast.«
»Ich habe dich aber auch furchtbar lieb, Tante!«
»Warum bist du dann aber so traurig, Pommerle?«
»Tut es dir nicht mehr im Herzen weh, wenn ich nicht traurig bin?«
»Du darfst dich nicht verstellen, mein liebes Kind, – du sollst mir alles sagen, was in deinem Herzen vorgeht, aber du sollst nicht immer allein sein und weinen.«
»Ich will's nicht mehr tun, liebe, liebe Tante,« sagte das kleine Mädchen mit fester Stimme. »Du sollst nicht traurig sein um mich, ich habe dich ja so furchtbar lieb!«
Frau Bender drückte Hanna einen langen Kuß auf die Stirn.
»So ist's recht, mein Pommerle, man muß immer tapfer und mutig sein, dann hilft der liebe Gott auch weiter.«
Als das Kleine am Abend in seinem Bettchen lag, dachte es nochmals an die Unterredung zurück. Es nahm sich fest vor, der Tante nicht mehr so viel von der Ostsee zu erzählen, weil die gute Tante darüber traurig wurde, vielleicht fand es irgend einen Menschen, dem es seine Sehnsucht anvertrauen konnte. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm Julius ein. – Ob der wohl auch traurig wurde, wenn ihm Pommerle erzählte, was ihm die Wellen sagten? Die Kleine beschloß gleich beim nächsten Zusammensein mit Jule, den Knaben danach zu fragen. Und wenn Jule froh dabei blieb, wollte Pommerle von nun an ihm sein Herz ausschütten und nur ihm von seinem Kummer und seiner Sehnsucht sprechen.
Pommerle und Jule werden Freunde
Der Mai war ins Land gekommen. Pommerles Sehnsucht nach dem weiten Meer, dem weißen Strande, war von Woche zu Woche gewachsen und hatte sich endlich nicht länger unterdrücken lassen. Frau Professor Bender, die wohl ahnte, was in dem Herzen ihres Pflegetöchterchens vorging, hatte Pommerle versprochen, schon in der kommenden Woche für zwei Tage in