10. Kapitel: Puckis goldenes Herz
Der Winter mit seinen vielen Freuden war vergangen. Wieder zog der Frühling ins Land und schmückte Bäume, Wiesen und Felder mit frischem Grün. Puckis Fleiß war nicht erlahmt. Sie freute sich an den Fortschritten, die sie im Lesen machte, und jedes Mal, wenn sie zur Schmanzgroßmutter wanderte, stellte Pucki selbst fest, dass sie Fortschritte gemacht hatte. Die Schmanzgroßmutter war über den heutigen Besuch des Kindes überglücklich und nannte Pucki ihren kleinen Engel, der im Alter zu ihr geflogen wäre, um sie zu erfreuen.
Aber auch verschiedene der Waldarbeiter gaben dem Försterkinde den Namen: unser gutes Waldgeistchen. Als Pucki zum ersten Male diesen Namen hörte, schaute sie erstaunt die Männer an und sagte:
»Ich heiße doch Pucki, und ein Pucki macht oft was Schlimmes.«
»Du bist aber kein schlimmer Puck, ganz im Gegenteil! Wo du hinkommst, verbreitest du Freude. Wir alle haben dich lieb, du bist eben der gute Waldpuck.«
Glücklich lief das Kind zu den Eltern und erzählte ihnen von dem Lobe, das ihr geworden war.
»Wenn ich der gute Waldpuck bin, Mutti, dann sollen mich alle Menschen nur immer Pucki nennen. Dann denke ich daran, dass der eine Mann im Walde gesagt hat, ich brächte den Leuten Freude und man hätte mich lieb. Oh, Mutti, ich möchte nur Pucki heißen, auch wenn ich so alt werde wie die Schmanzgroßmutter.«
»Du bist ja unsere liebe Pucki.«
»Aber alle Menschen sollen mich Pucki nennen, und ich will immer sehen, dass ich ein guter Waldpuck bin. Die Schmanzgroßmutter meint auch, ich mache ihr Freude.«
Von jetzt an lebte in Pucki mehr denn je das Verlangen, alle Menschen zu erfreuen. Wenn sie mit dem Vater in den Wald ging, so brachte sie den Holzfällern stets ein paar Blümchen. Mitunter steckte sie diesem oder jenem einen Bonbon zu, den sie sich daheim abgespart hatte. Traf sie Leute, die Holz suchten, so war sie sogleich bereit, zu helfen, und lud oftmals Äste auf die kleinen Wagen.
Die Tiere des Waldes waren ihre besonderen Lieblinge. Jedes Vöglein, jedes Käferchen wurde entzückt betrachtet. Hatte ein Käfer Mühe, über einen im Wege liegenden Ast zu kommen, so beugte sie sich nieder, um den Ast behutsam aus dem Wege zu räumen.
»Du sollst auch deine Freude haben, du liebes Käferlein, sollst dich nicht quälen.«
Vor den Ameisenhaufen konnte sie lange stehen und die fleißigen Tierchen beobachten. Nicht selten brachte sie Krümchen mit und hatte Freude daran, wenn die emsigen kleinen Tiere den wertvollen Schatz in ihren Bau trugen. Niemals hätte sie einen Ameisenhaufen zerstört. Als Paul einmal den Versuch machte, fuhr die Kleine ihm zornig in die Haare und riß ihn zurück.
»Ein großer Junge wird solch kleinen Tierchen, die immerfort arbeiten, ein Leid zufügen! Oh, pfui, ich mag dich gar nicht mehr leiden!«
An einem Nachmittage erschien der große Claus im Forsthause und schloss Pucki lachend in seine Arme.
»Ich bin nun fertig mit der Schule, Pucki, ich habe das Abiturium bestanden und bin darüber sehr froh.«
»Ich habe auch tüchtig den Daumen gedrückt. – Brauchst du nun gar nicht mehr in die Schule gehen?«
»Ach, nun geht das Lernen erst richtig los. Jetzt wird es noch ernsthafter als früher.«
»Fängst du noch mal von vorne an, großer Claus?«
»Jetzt geht es auf die Universität, dort wird studiert, bis aus dem großen Claus ein Onkel Doktor geworden ist, der die kranken Menschen gesund macht.«
»Ach, und wenn ich krank werde, kommst du dann auch zu mir und machst mich gesund?«
»Freilich, ich hoffe aber, dass du gar nicht erst krank wirst, Pucki. Für dich gibt es nun auch bald Ferien, dann wollen wir wieder zusammen durch den Wald wandern.«
»Wieviel Tage sind es noch, bis ich Ferien habe?«
»So viele, wie du Finger an einer Hand hast.«
»Und was ist dann?«
»Gründonnerstag – Karfreitag – dann kommt das Osterfest.«
»Ja, mit dem Osterhasen und den Ostereiern.«
»Mit der Versetzung, Pucki! Du wirst doch ein gutes Zeugnis erhalten und in die siebente Klasse hinüber kommen?«
»Ich glaube schon – Fräulein Caspari hat ein bisschen davon erzählt.«
»Das ist schön – ich hätte sonst meine kleine Pucki auch gar nicht mehr so lieb haben können wie bisher, wenn sie faul wäre.«
»Hast du den Paul Niepel nicht lieb? Er ist faul und wird nicht versetzt. Aber der Fritz wird versetzt, er ist lieb und fleißig.« – –
So vergingen auch die letzten Schultage, und beglückt brachte Pucki ein sehr gutes Zeugnis heim. Dafür wurde sie von den Eltern gelobt.
»Weißt du noch, Pucki«, sagte der Vater, »dass du dich vor der Schule sehr gefürchtet hast? Du wolltest gar nicht hingehen. Anfangs warst du auch nicht gerade fleißig, doch jetzt, da du sieben Jahre zählst, bist du schon klüger geworden. Du siehst bereits ein, wie schön es ist, wenn man etwas versteht, und wieviele Freude man damit anderen machen kann.«
»Wenn ich zur Schmanzgroßmutter gehe, zeige ich ihr das Zeugnis und lese ihr was vor.«
»Zur Schmanzgroßmutter wirst du in den nächsten Tagen nicht gehen können. Die alte Frau ist nicht wohl.«
»Vati, tut ihr was weh?«
»Ja, sie muss zu Bett liegen.«
»Oh, dann gehe ich mit dem großen Claus hin. Er wird bald alle Leute gesund machen können. Er kann auch die Schmanzgroßmutter wieder gesund machen. – Ach, Vati, lass mich doch zur Schmanzgroßmutter gehen.«
»Erst wollen wir abwarten, wie es ihr morgen geht. Dann kannst du vielleicht am Ostersonnabend hingehen.«
Am Gründonnerstag saßen die beiden Kinder im Garten zusammen. Pucki erzählte Waltraut von dem Osterhasen mit dem goldenen Schwänzchen, der in wenigen Tagen wieder in das Forsthaus kommen würde, um schöne bunte Eier zu legen.
»Wir müssen aber noch warten und noch ein paarmal schlafen gehen, Waldi, ehe er kommt. Heute ist erst der grüne Donnerstag, an dem alles schön grün wird. Und morgen ist immer noch nicht Ostern, aber dann bald.«
Der nächste Morgen brachte Pucki eine große Freude. Aus der Oberförsterei wurde angerufen, dass Oberförster Gregor am heutigen Tage beruflich nach Rotenburg müsse. Er wolle in seinem Auto Pucki und die drei Niepelschen Knaben mitnehmen. Pucki möge sich für ein Uhr bereithalten, dann würde das Auto kommen.
Die Kleine jubelte laut auf. Eine Fahrt im Auto des Onkel Oberförster hatte für sie keine Schrecken. Wohl dachte sie mit Entsetzen an eine Fahrt in dem dunklen Kasten des Viehhändlers Henschel, die sie einmal gemacht hatte, aber in dem großen Wagen von Onkel Oberförster saß es sich herrlich.
»Mutti, ich freue mich furchtbar! Mach nur, dass ich bald fertig werde, damit der Onkel nicht zu warten braucht. – Mutti, ist der große Claus auch dabei?«
»Das weiß ich nicht. Außerdem kennt Claus Rotenburg genau, denn er geht dort mit seinem Bruder aufs Gymnasium.«
»Ja, dort hat er gewohnt, bei seiner Tante.«
»Wahrscheinlich wird der gute Onkel Oberförster euch zu der lieben Tante bringen. Sei also nicht unartig, mein Kind. Wenn du mit den Niepelschen Knaben zusammen bist, bist du genau so wild wie sie.«
»Ach, fein wird es sein! Mutti, ich freue mich furchtbar!«
Oberförster Gregor, der große Kinderfreund, wollte besonders der fleißigen kleinen Pucki und dem braven Fritz Niepel eine Freude machen. Die beiden Kinder hatten so gute Zeugnisse mit heimgebracht, dass sie