als sie die beschmutzte Schwester sah.
»Hu, du Dreckfink!«
»Bist du still!«
»Ätsch, wie du aussiehst!«
Da schlug Pucki mit den unsauberen Händen auf Waldi ein und packte sie an den Haaren, so dass die Kleine, die sich anfangs energisch wehrte, schließlich ein lautes Schreien ausstieß. Agnes stimmte mit ein. Da kam die Mutter ins Zimmer gelaufen. Obwohl sich Pucki sofort scheu in die Zimmerecke drückte, fiel ihr Blick sogleich auf das unsaubere Kleid.
»Was ist denn hier los?«
»Sie hat mich gehauen«, weinte Waltraut.
Pucki stand stumm da, beide Zeigefinger im Mund.
»Pucki!«
Noch rührte sich Pucki nicht. Sie wäre gar zu gern zur Mutter geeilt, um ihr Unrecht zu gestehen, aber Trotz und Scham hielten sie in der Ecke fest.
»Mit ihren schmutzigen Händen ist sie mir ins Gesicht gefahren«, weinte Waltraut. Dann stürzte sie auf die größere Schwester zu und schlug mit beiden Fäustchen auf Pucki ein. Pucki ließ es ruhig geschehen. Sie fühlte sich so schuldbeladen. Die Schläge hatte sie verdient.
»Wie siehst du denn aus, Pucki?« fragte die Försterin streng. »Wo bist du gewesen?«
Als keine Antwort kam, trat Frau Sandler dicht vor ihr Töchterchen hin und fragte streng: »Willst du endlich reden, Pucki?«
»Ach, Mutti, Mutti – –«
Dann erfolgte die Beichte. Schweigend zog Frau Sandler dem Töchterchen das rosa Kleidchen aus, holte den Strickstrumpf herbei und gab ihn Pucki in die Hände.
»Du strickst bis zum Kaffeetrinken ununterbrochen und sprichst kein Wort. Dann bekommst du Schwarzbrot ohne Aufstrich, und dann strickst du noch eine Stunde. – Du gehst aus diesem Zimmer nicht heraus. Waltraut werde ich später rufen, damit sie die Tanten begrüßt. Waltraut bekommt Waffeln zu essen und Schokolade zu trinken. Du bist ein recht unartiges Mädchen, Pucki.«
Die Gescholtene setzte sich in die Ecke. Träne auf Träne tropfte auf den Strumpf. Waltraut stellte sich vor die Schwester und sah sie an. Doch Pucki sagte kein Wort. Nur hin und wieder kam ein unterdrücktes Schluchzen aus der kleinen Brust.
Noch schmerzlicher war es, als Minna das Brot und den Kaffee brachte. Trotzdem verzehrte Pucki alles. Es war doch wenigstens eine Unterbrechung des entsetzlichen Strickens. Wenn nur erst die Mutti wieder gut wäre! – Fräulein Caspari hatte doch recht, nur bei Agnes stimmte es nicht. Pucki hatte die kleine Schwester ja vor Tisch geschlagen, und keiner hatte es gesehen. So glaubte Pucki auch jetzt noch, dass auf manche schlimme Tat doch keine Strafe folge. Freilich, für das Waffelnehmen war sie sehr schwer bestraft worden, aber Agnes konnte sie wohl doch hin und wieder einen kleinen Klaps geben, wenn sie so sehr schrie, ohne dass dafür eine Strafe kam. –
Als Pucki am anderen Tage aus der Schule kam, nahm sie der Vater bei der Hand.
»Du musst heute sehr artig sein, mein Kind, dein kleines Schwesterchen wird sehr krank werden.«
»Was hat sie denn?«
»Der Onkel Doktor wird bald kommen. Die Händchen haben rote Flecken bekommen.«
»Die Hände haben rote Flecken bekommen?«
»Ja, Pucki, und nun fangen die roten Flecken auch schon am Halse an.«
»Ich – ich –«, sagte Pucki stockend, »ich hab' die Agnes wirklich nur auf die Hände gehauen, nicht auf den Hals.«
»Was – du hast dein kleines Schwesterchen geschlagen?«
»Ach, Vati, sie hat geschrien und immerfort geschrien, da habe ich sie ein bisschen auf die Hände geschlagen.«
»So ein schwaches Kindchen, das man leicht zerbrechen kann, hast du geschlagen? Weißt du denn nicht, dass man so kleine Kinder ganz behutsam anfassen muss, weil man sonst etwas an ihnen zerbricht? Habe ich dir das nicht schon mehrmals gesagt?«
»Ach, Vati – ich habe es doch nicht schlimm gemeint. – O weh, nun wird sie krank, weil ich sie gehauen habe! Nun stimmt es doch, dass jede schlimme Tat bestraft wird. – Ach, Vati, was machen wir nur? Die Waltraut habe ich auch gehauen. Wird das nun auch bestraft?«
Am nächsten Tage zeigten sich auch bei Waltraut rote Flecken im Gesicht und an den Händen. Und das Schwesterchen war über und über mit roten Flecken bedeckt.
»Masern«, sagte der Arzt. »Es ist wohl am besten, wenn Sie Pucki nicht erst absperren. Masern sind sehr ansteckend, ich nehme an, dass auch Pucki bereits den Keim zu dieser Krankheit in sich trägt.«
So wurde Pucki von den Geschwistern nicht ferngehalten. Sie musste aus der Schule bleiben und stand viel am Bettchen der kleinen Agnes.
»Ich hau' dich nicht mehr, ganz bestimmt nicht mehr. Jetzt glaube ich, dass man für alles Böse, was man tut, bestraft wird. – Vati, wann gehen denn die schlimmen Flecken wieder weg?«
»Das dauert noch einige Wochen.«
»So doll habe ich doch nicht gehauen«, rief Pucki unter Tränen, »so doll braucht mich der liebe Gott nicht zu bestrafen!«
Zwei Tage später hatte Pucki auch die Masern. Im Schlafzimmer lagen die drei Kinder zusammen in ihren Betten. Bei Pucki zeigte sich die Krankheit am schlimmsten. Oft, wenn sie mit heißem Kopf in den Kissen lag, dachte sie an Fräulein Caspari: Sie hat schon recht gehabt!
Besuch durfte ins Forsthaus nicht kommen, obgleich Pucki häufig nach ihren Schulgefährtinnen verlangte. Sie wollte auch an die Niepelschen Knaben schreiben, doch hielt man alle von ihr fern. So hatte sie ausreichend Zeit, über ihre Streiche nachzudenken. Der einzige Trost, der ihr blieb, war der Mutter Versprechen, dass sie, wenn es ihr besser ginge, Waffeln bekommen sollte.
»Mutti, geht es mir nun besser?« fragte das kleine Mädchen an jedem Morgen.
Aber Wochen vergingen noch. Der Juni ging seinem Ende entgegen.
»Mutti, nun kommen doch bald die großen Ferien! Oh, habe ich lange Ferien gehabt! Kommt nun bald wieder die Rose Scheele?«
»Ja, Pucki, die Rose kommt auch in diesem Jahr wieder zu uns in den Wald. Wir haben das Stadtkind herzlich lieb gewonnen, und auch Rose freut sich schon sehr, dass sie die Ferien wieder bei uns verleben darf.«
Pucki blickte sinnend zur Zimmerdecke hinauf. Vor zwei Jahren war Rose Scheele als blasses, trauriges Stadtkind mit vielen anderen Mädchen in die Försterei gekommen. Die beiden Kinder hatten sich herzlich angefreundet, und die Trennung war daher schmerzlich gewesen. Dann schrieb man sich fleißig Briefe.
Nun dauert es nicht mehr lange, dann kam Rose wieder her.
»Aber erst musst du ganz gesund sein, mein liebes Kind.«
»Mir ist es so, Mutti, als wären alle meine Unarten mit den roten Flecken aus mir gegangen.«
»Das wollen wir hoffen«, lachte die Mutter.
Kaum waren Pucki und Waldi aus den Betten, als sie sich auch schon wieder stritten und prügelten.
»O weh«, sagte die Mutter, »ich glaube, es sitzen noch viele Unarten in dir, Pucki.«
5. Kapitel: Das Himmelskästchen
Die drei Kinder des Försters hatten die Masern glücklich überstanden. Die großen Ferien waren angebrochen, und Pucki freute sich, dass sie so viel freie Zeit gehabt hatte, während ihre Schulfreundinnen lernen mussten. Sie hörte freilich mit sichtlichem Unbehagen, dass die Mutter während der Ferien hin und wieder Thusnelda ins Forsthaus rufen wollte, damit sie mit Pucki alle die Aufgaben durchging, die während Puckis Krankheit in der Schule durchgenommen worden waren. Aber mit Thusnelda lernte es sich wahrscheinlich viel besser als mit Fräulein Caspari. Sie brauchte dann nicht stille zu sitzen und nicht so gut aufzupassen.
Nun war Rose Scheele zum dritten