„Aua, Ihr tut mir ja weh“, schrie Horst, dann fügte er rasch hinzu: „Ohnmächtig ist er nur, völlig weggetreten. Dem geht es auf jeden Fall besser als mir.“ Zum Beweis hustete der Schneemann laut, doch sein klagendes „Diese Bronchitis werde ich in diesem Winter einfach nicht mehr los“, hörte die Königin schon gar nicht mehr. Rasch eilte sie den Zwergen entgegen. „Schnell“, rief sie ihnen zu, „bringt ihn in meine warme Kammer, damit er sich erholen kann.“
Horst, der diese Gelegenheit zum Aufwärmen ebenfalls nutzen wollte und mit den Zwergen gerade durch das Schloss-tor huschte, befahl sie: „Du sagst schnell den anderen im Märchenwald Bescheid.“
Bald schon waren alle um das Bett der Königin versammelt, in dem der Weihnachtsmann schnarchend und mit blassem Gesicht schlief.
„Wenn er doch nur aufwachen würde“, sprach die Königin besorgt. Die anderen nickten beifällig. In diesem Moment verstummte sein Schnarchen und er öffnete tatsächlich die Augen.
„Wo bin ich?“, fragte er krächzend.
„Sie sind im Märchenland, lieber Weihnachtsmann“, antwortete die Königin erleichtert und so warmherzig, wie nur Königinnen sein können.
„Im Märchenland?“, röchelte der Weihnachtsmann verwundert. „Bitte, wie soll mein Name sein?“
„Weihnachtsmann“, antwortete die Königin.
„Weihnachtsmann?“, wiederholte er, „den Namen habe ich schon einmal gehört. Wer ist das?“
Die Königin war entsetzt. „Könnt Ihr Euch denn an gar nichts erinnern?“
Der Weihnachtsmann dachte lange nach, dann schüttelte er müde den Kopf. „An überhaupt nichts“, antwortete er resigniert.
„Das ist ja furchtbar“, stöhnte die Königin und alle anderen im Raum stimmten mit ein: „Furchtbar!“
Horst, der endlich ein warmes Plätzchen gefunden hatte, drängelte sich nach vorn, schaute dem Weihnachtsmann tieftraurig in seine kristallblauen Augen und fragte: „Hast du etwa auch vergessen, dass ich mir einen großen Ofen zu Weihnachten gewünscht habe?“ Sofort stürmten auch die anderen zum Bett und überschütteten den Weihnachtsmann mit tausend Fragen nach ihren Geschenken. Der versuchte tapfer, jedem zuzuhören. „Von Euren Geschenken weiß ich nichts. Aber ihr seid sicher, dass ich der Weihnachtsmann bin?“
Die Königin hob die Hände und alle verstummten. „Ihr seht doch, es hat keinen Sinn, er kann sich an nichts mehr erinnern. Jetzt überlegt schnell, wie wir ihm helfen können.“
„Wir müssen erst einmal seinen Schlitten mit den Geschenken finden“, rief der Schneemann und jeder war von dem Vorschlag begeistert. Rasch leerte sich der Raum und nur der Weihnachtsmann blieb allein zurück. Seine verzweifelte Frage „Nun sagt mir doch, bin ich wirklich der Weihnachtsmann?“, verhallte unbeantwortet.
Alle Märchenwaldbewohner liefen aufgeregt im Land umher und suchten nach dem Schlitten. Fast alle, wie die Königin feststellte, denn es fehlten Hänsel und Gretel. Sie ließ sich zu deren Häuschen bringen und klopfte energisch an die Türe. Zunächst war nichts zu hören. Als aber der Wolf, der sie begleitet hatte, laut schrie „Kommt raus oder ich fresse euch“, öffnete sich ganz vorsichtig die Pforte. Mit schokoladenverschmierten Mündern standen Hänsel und Gretel vor ihr und blickten schuldbewusst zu Boden.
„Habt ihr zufällig den Schlitten des Weihnachtsmannes gesehen?“, säuselte die Königin.
Hänsel wehrte trotzig ab: „Mir sage nix.“
„Nee, mir sage nix!“, schmatzte Gretel.
„Denkt doch an die armen Menschenkinder, die jetzt auf ihre Geschenke warten“, redete die Königin ihnen ins Gewissen.
Da erklang die Stimme des Wolfes, der sich inzwischen schon auf die Suche begeben hatte. „Ich habe den Schlitten gefunden, königliche Hoheit. Die kleinen Racker hatten ihn im Stall versteckt.“
„Gott sei Dank“, rief die Königin, „jetzt kann doch noch alles gut werden.“
Königin und Wolf stiegen sofort auf den Schlitten und trieben die reichlich verstörten Rentiere eilig zum Schloss.
„Sag mal, Wölfie, waren das nicht einmal acht Rentiere?“, fragte die Königin schmunzelnd und musterte dabei den Wolf.
„Keine Ahnung“, antwortete dieser und zog seinen prall gefüllten Bauch ein.
„Für uns im Märchenland kann ich die Weihnachtsbescherung übernehmen, aber was wird aus den Menschenkindern?“, fragte die Königin.
„Das Pack hat keine Geschenke verdient“, knurrte der Wolf.
„Wölfie, das können wir nicht machen“, antwortete sie streng, „dir fällt doch bestimmt jemand von uns ein, der die Aufgabe des Weihnachtsmannes übernehmen könnte.“
„Wie wär es mit dem Osterhasen? Der kennt doch die Tour und hat im Moment eh nichts zu tun.“
„Wölfchen, du bist ein Schatz“, rief die Königin begeistert und drückte ihm einen feuchten Schmatzer auf die graubärtige Wange. „Ich werde ihn überzeugen, dass er dieses Jahr ein zweites Mal auf die Erde muss.“
So geschah es. Nach eifrigem Zureden erklärte sich der Osterhase bereit, als Aushilfskraft für den Weihnachtsmann einzuspringen.
„Allerdings nur, wenn meine acht Kinder in diesem Jahr ihre Geschenke vom Weihnachtsschlitten selber auswählen dürfen“, bat er, „denn der Weihnachtsmann hat ihnen bisher immer die falschen Dinge unter den Baum gelegt.“
„Selbstverständlich“, versprach die Königin und fügte hinzu: „Außerdem werde ich ihm ins Gewissen reden, dass er dich als Konkurrenten etwas netter behandelt, weil du ihm doch in diesem Jahr so selbstlos geholfen hast.“
Der Osterhase errötete vor Stolz und antwortete: „Na ja, ein wenig besser könnte er mich schon behandeln, nur wegen meiner Kinder natürlich.“
Das Weihnachtsfest auf Erden war gerettet. Die Berichte von aufgeregten Kindern, sie hätten in der Weihnachtsnacht den Osterhasen auf einem fliegenden Schlitten gesehen, wurden von den Erwachsenen natürlich nicht geglaubt. Doch waren die meisten etwas verblüfft, als sie ihre Geschenke in einem Nest vorfanden. Aber im allgemeinen Weihnachtstrubel wurde dies schnell wieder vergessen.
Josef Herzog wurde 1960 in Seesen geboren und wohnt in Schotten. Er ist Dipl.-Verwaltungswirt und schreibt am liebsten skurrile Kurzgeschichten und Märchen. Er ist Mitglied des deutschen Schriftstellerverbandes und Preisträger des Literaturwettbewerbes der Braunschweigischen Landschaft 2001 sowie des Literaturwettbewerbes zu den Norddeutschen Büchertagen 2004 und des Braunschweiger Lyrik-Fensters 2006.
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Putschipatschis Weihnachten
Spät im November heulte der Sturm um die alte Mühle. Er pfiff durch Löcher und Ritzen des alten Gemäuers, klapperte an den grünen Fensterläden und bemühte sich, die Pfannen von den Dächern zu reißen. Erste Schneeflocken mischten sich in den peitschenden Regen. Im alten Haus bullerte der Holzofen und verbreitete gemütliche Wärme. Mutsch hatte sich einen Wintertee aufgegossen, saß am Küchentisch und bastelte Weihnachtssterne aus Goldpapier. Ein wenig wehmütig dachte sie an die Zeiten zurück, als sie erst mit ihrer Mutter Sterne gebastelt hatte und später dann mit ihren Kindern. Inzwischen waren die Kinder erwachsen und aus dem Haus. Eine kleine Träne tropfte verstohlen an ihrer Wange herunter.
Neben ihr räusperte sich etwas. Putschipatschi, der kleine Mühlenkobold, war unbemerkt in die Küche geschlichen und auf den Stuhl neben Mutsch geklettert. „Warum weinst du, wenn du so schöne Dinge machst?“, fragte das Kerlchen neugierig. „Was ist das überhaupt? Es sieht aus wie ein Stern vom Himmel!“
„Ich mache Weihnachtssterne für den Tannenbaum und ich denke an frühere Zeiten, als ich mit meinen Kindern gebastelt habe“, antwortete Mutsch