Charles Dickens

Nikolas Nickleby


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Riegel des Hoftors zurückschieben, und gleich darauf trat ein aufgeschossener, ausgemergelter Junge mit einer Laterne in der Hand heraus.

      »Bist du's, Smike?« rief Squeers.

      »Ja, Sir.«

      »Warum zum Teufel hast du so lange gemacht?«

      »Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich war beim Feuer eingeschlafen«, antwortete Smike demütig.

      »Feuer? Was für ein Feuer? Wo ist Feuer?« fragte der Schulmeister scharf.

      »Nur in der Küche, Sir«, entgegnete der Junge. »Mrs. Squeers sagte, ich könnte hineingehen und mich wärmen, bis Sie kämen.«

      »Ich glaube, Mrs. Squeers ist toll geworden«, brauste der Pädagog auf. »Du wärest in der Kälte wahrhaftig eher wach geblieben.«

      Mr. Squeers war mittlerweile ausgestiegen und befahl dem Jungen, nach dem Pferd zu sehen und dafür Sorge zu tragen, daß es heute keinen Hafer mehr bekäme. Dann hieß er Nikolas an der Eingangstüre warten, die er von innen öffnen gehen wollte.

      Ein Heer schlimmer Gedanken bestürmten Nikolas; die große Entfernung von der Heimat und die Unmöglichkeit, sie anders als zu Fuße zu erreichen, wenn er genötigt sein sollte zurückzukehren, stellten sich ihm in den beunruhigendsten Farben dar, und als er das trübselige Haus mit den dunklen Fenstern und die wilde, ringsumher mit Schnee bedeckte Gegend betrachtete, fühlte er ein Herzeleid, wie er es bisher nie gekannt hatte.

      »Nun?« rief Squeers und steckte den Kopf aus der Türe. »Wo sind Sie denn, Nickleby?«

      »Hier, Sir.«

      »So kommen Sie doch herein. Der Wind saust durch die Türe, daß es einen umwerfen könnte.«

      Nikolas gehorchte seufzend. Mr. Squeers legte, um das Tor gegen den Wind zu sichern, einen Balken vor und führte dann den Hilfslehrer in ein kleines, sparsam mit Stühlen versehenes Zimmer. An der Wand hing eine vergilbte Landkarte, und auf einem der beiden vorhandenen Tische standen die Vorbereitungen zu einem Abendessen, während auf dem andern Murrays Grammatik – der unentbehrliche Ratgeber des Pädagogen –, ein halbes Dutzend Geschäftskarten und ein alter, an Wackford Squeers, Wohlgeboren, adressierter Brief in malerischer Unordnung umherlagen.

      Sie waren kaum ein paar Minuten in diesem Gemach, als ein Frauenzimmer hereinstürzte, Mr. Squeers an der Kehle packte und ihm zwei schallende Küsse applizierte, die einander so rasch wie das Klopfen eines Briefträgers folgten. Die Dame, eine hagere, derbknochige Gestalt, war fast um einen halben Kopf größer als Mr. Squeers und trug eine barchentne Nachtjacke und eine schmutzige Schlafmütze, gegen die ein gelbes, baumwollenes Schnupftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknüpft hatte, lebhaft abstach.

      »Was macht mein Squeerchen?« fragte sie in scherzendem Tone und mit rauher heiserer Stimme.

      »Ganz gut geht's mir, meine Liebe«, versetzte Squeers. »Was machen die Kühe?«

      »Alles wohl. Stück für Stück.«

      »Und die Schweine?«

      »Sind so gesund wie bei deiner Abreise.«

      »Gott sei Dank«, sagte Squeers und zog seinen Reisemantel aus. »Mit den Jungen ist wahrscheinlich auch alles in Ordnung?«

      »O ja, so ziemlich«, versetzte die Dame ärgerlich. »Der kleine Pitcher hat wieder Fieber.«

      »Verdammter Bengel«, fluchte Squeers, »der hat auch immer was.«

      »Ich glaube, auf der ganzen Welt gibt's keinen so nichtsnutzigen Jungen mehr«, schimpfte Mrs. Squeers, »und wenn er etwas hat, dann ist's auch jedesmal noch ansteckend. Aber es ist nichts als seine Verstocktheit, das wird mir niemand ausreden. Ich werde es ihm aber schon ausprügeln, wie ich dir bereits vor sechs Monaten gesagt habe.«

      »Ja, ich erinnere mich, meine Liebe«, brummte Squeers. »Na, wir werden ja sehen, was sich tun läßt.«

      Nikolas stand mittlerweile verlegen mitten im Zimmer, unschlüssig, ob er sich in den Hausflur zurückziehen oder bleiben solle. Mr. Squeers erlöste ihn jetzt aus dieser peinlichen Ungewißheit.

      »Dies ist der neue junge Mann, mein Schatz«, stellte er ihn der Frau vom Hause vor.

      »So«, sagte Mrs. Squeers, nickte Nikolas zu und musterte ihn unfreundlich von Kopf bis zu Fuß.

      »Er wird mit uns zu Abend essen und morgen sein Geschäft bei den Jungen beginnen. – Du kannst ihm doch eine Streu zurechtmachen, was?«

      »Will sehen, was sich tun läßt«, brummte die Dame. »Sie machen sich doch nichts daraus, wie Sie schlafen, was?«

      »O nein«, beeilte sich Nikolas zu erwidern, »in dieser Hinsicht bin ich nicht heikel.«

      »Na, das ist ja ein großes Glück«, höhnte Mrs. Squeers.

      Der Witz der Dame pflegte sich zumeist in beißenden Antworten zu äußern, und Mr. Squeers lachte deshalb herzlich und schien von Nikolas dasselbe zu erwarten.

      Sodann entspann sich zwischen dem Ehepaar wieder eine lebhafte Unterhaltung über den Erfolg von Mr. Squeers' Abstecher und inzwischen eingegangene Zahlungen und böswillige Schuldner, die erst aufhörte, als ein Dienstmädchen eine Yorkshirer Pastete und ein kaltes Stück Rindfleisch hereintrug und beides auf den Tisch setzte, worauf der junge Smike mit einem Krug Bier erschien.

      Mr. Squeers entleerte die Taschen seines Mantels von den Briefen an die verschiedenen Zöglinge und von kleinen Dokumenten, die er mitgebracht hatte, wobei der halbwüchsige Junge mit einem scheuen und ängstlichen Ausdruck auf die Papiere blickte, als hege er die schwache Hoffnung, es könne vielleicht auch etwas für ihn darunter sein. Der Blick war so schmerzlich und sprach von so langen qualvollen Leiden, daß er Nikolas tief ins Herz schnitt.

      Obgleich Smike nicht weniger als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen konnte und für dieses Alter ziemlich groß schien, so war doch seine Kleidung ungefähr die eines kleinen Knaben und an Armen und Beinen geradezu lächerlich kurz – nichtsdestoweniger aber weit genug, so mager und abgezehrt war die Gestalt des Jungen. Um die untere Partie seiner Beine mit dieser seltsamen Garderobe in Einklang zu bringen, trug er ein Paar ungeheure Stiefel, die ursprünglich mit Stulpen versehen gewesen, für einen stämmigen Bauern gemacht sein mochten, aber jetzt sogar für einen Bettler zu zerschlissen waren. Gott weiß, wie lange er schon bei Squeers sein konnte, aber offenbar trug er noch immer dasselbe Weißzeug, das er einst mitgebracht, denn um den Hals hing ihm eine zerrissene Kinderkrause, die zur Hälfte von einem groben Männerhalstuch bedeckt war. Er hinkte, und während er sich emsig mit der Herrichtung des Tisches beschäftigte, warf er einen so scharfen und doch so entmutigten und hoffnungslosen Blick auf die Briefe, daß Nikolas es kaum mehr mit ansehen zu können glaubte.

      »Was schnüffelst du da herum, Smike?« rief Mrs. Squeers plötzlich. »Willst du wohl die Sachen daliegen lassen, was?«

      »Ah, du bist da?« sagte der Pädagog und blickte auf.

      »Ja, Sir«, hauchte der Junge und preßte die Hände zusammen, als ob er mit Gewalt die zuckenden Finger zurückhalten müsse, nicht nach den Papieren zu greifen, »ist nicht -?«

      »Was?« fuhr Squeers auf.

      »Haben Sie – ist jemand – hat man nichts gehört – über mich?«

      »Zum Henker, nein«, brummte Squeers verdrießlich.

      Der Junge blickte weg und schlich, sich mit der Hand die Augen bedeckend, zur Türe.

      »Nicht ein Wort«, nahm Squeers seine Rede wieder auf, »und ich werde wohl auch nie etwas zu hören bekommen. Wirklich unglaublich, daß du jetzt schon so viele Jahre hier bist und man nach den ersten sechsen keinen Penny mehr für dich bezahlt hat. Nicht einmal gefragt hat man nach dir, so daß man hätte ausfindig machen können, wohin du gehörst. Eine feine Geschichte das, einen so großen Bengel wie dich auffüttern zu müssen, ohne die Hoffnung zu haben, je einen Penny dafür zu bekommen. Was?«

      Der Junge legte die Hand an die Stirne, als versuche er, sich irgendeine