Charles Dickens

Nikolas Nickleby


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Der Haushalt in Dotheboys Hall

      Eine Fahrt von zweihundert und etlichen Meilen bei schlechtem Wetter kann auch das härteste Bett weich machen. Vielleicht ist sie auch imstande, die Träume zu versüßen; wenigstens waren die, die Nikolas' hartes Lager umgaukelten und ihr luftiges Nichts in sein Ohr flüsterten, heiterster und glücklichster Art. Er war eben im Begriff, das rollende Rad des Glücks auf Windesflügeln einzuholen, als der schwache Schimmer einer ersterbenden Kerze auf seine Augen fiel und eine Stimme, die er ohne Schwierigkeiten für die Mr. Squeers' erkennen konnte, ihn erinnerte, daß es Zeit sei zum Aufstehen.

      »Sieben vorbei«, mahnte der Schulmeister.

      »Es ist schon Morgen?« fragte Nikolas und setzte sich im Bett auf.

      »Na freilich. Und noch dazu ein recht eisiger Morgen. Machen Sie rasch, Nickleby, beeilen Sie sich.«

      Nikolas bedurfte keiner weitern Ermahnung und kleidete sich beim Schein der Kerze, die Mr. Squeers in der Hand hielt, so rasch er konnte, an.

      »Eine schöne Bescherung«, bemerkte Squeers, »der Brunnen ist zugefroren.«

      »So«, entgegnete Nikolas zerstreut, da ihn diese Nachricht nicht besonders interessierte.

      »Jawohl, Sie können sich daher heute nicht waschen.«

      »Mich nicht waschen?« rief Nikolas.

      »Nein; geht eben nicht«, erwiderte Squeers spitzig, »Sie müssen sich begnügen, sich eine trockene Politur zu geben, bis wir das Eis im Brunnen aufhacken und einen Eimer Wasser für die Jungen heraufholen können. Na, was starren Sie mich so an? Eilen Sie sich gefälligst!«

      Nikolas erwiderte kein Wort und schlüpfte hastig in seine Kleider, während Squeers die Läden öffnete und das Licht ausblies. Bald darauf ließ sich die Stimme der liebenswürdigen Frau vom Hause vernehmen, die Einlaß begehrte.

      »Komm nur herein, mein Schatz«, sagte der Schulmeister. Mrs. Squeers trat ein, noch immer in derselben Nachtjacke, in der sie sich schon abends so zweifelhaft ausgenommen, nur daß sie als weitere Zierde einen alten Castorhut mit vieler Anmut über der bereits erwähnten Nachthaube trug.

      »Verfluchtes Zeug«, schimpfte sie, den Wandschrank öffnend, »ich kann den Schullöffel nirgends finden.«

      »Mach dir nichts draus«, begütigte Squeers, »es ist doch ganz egal.«

      »Ganz egal? Wie kannst du nur so reden«, entgegnete die Dame bissig. »Heute ist doch Schwefeltag.«

      »Ja, ja, richtig. Das habe ich ganz vergessen«, sagte Mr. Squeers. »Wir geben den Jungen hie und da zum Blutreinigen ein, müssen Sie wissen, Nickleby.«

      »Ach was, Papperlapapp«, unterbrach die Hausfrau. »Glauben Sie ja nicht, junger Mann, daß wir uns für Schwefelblüte und Sirup Unkosten machen würden, bloß um ihnen das Blut zu reinigen. – Wenn sie vielleicht glauben, wir betreiben das Geschäft auf diese Weise, sind Sie stark im Irrtum.«

      »Meine Liebe«, wendete Squeers mit Stirnrunzeln ein. »Hm-«

      »Ach, Dummheiten«, keifte Mrs. Squeers. »Wenn der junge Mann hier Lehrer sein will, so muß er auch wissen, daß wir kein Federlesens mit den Jungen machen. – Also, sie kriegen den Schwefel mit Sirup erstens einmal, weil sie, wenn man anders mit ihnen dokterte, immer etwas zu klagen hätten, so daß man gar nicht fertig würde; und dann, weil es ihnen die Freßlust nimmt und billiger zu stehen kommt als ein Frühstück und ein Mittagessen. So tut es zu gleicher Zeit ihnen und uns gut. Was will man weiter?«

      Nach dieser umfassenden Erklärung steckte Mrs. Squeers den Kopf in den Schrank und stellte genaue Nachforschungen nach dem Löffel an, wobei ihr ihr Gatte half. Während des Suchens flüsterten sie miteinander, aber der Schrank dämpfte den Ton der Stimme so, daß Nikolas nichts weiter verstehen konnte, als daß Mr. Squeers behauptete, sie hätte etwas Unverständiges gesagt – eine Ansicht, die indes die Gnädige für dummes Geschwätz erklärte.

      Als sich alles Suchen und Umherstöbern als fruchtlos erwies, rief sie Smike herein, den sie so lange mit Püffen und Mr. Squeers mit Ohrfeigen bearbeitete, bis sich im Lauf dieser Doppelbehandlung sein Geist so weit aufhellte, daß er die Vermutung auszusprechen vermochte, Mrs. Squeers habe den Löffel vielleicht in der Tasche, was sich denn auch als richtig herausstellte. Da jedoch Mrs. Squeers vorher beteuert hatte, sie wisse ganz bestimmt, daß er nicht dort wäre, so erhielt Smike eine weitere Ohrfeige, weil er sich unterfangen, seiner Gebieterin zu widersprechen – und zugleich die Verheißung einer Tracht Prügel, wenn er sich in Zukunft nicht respektvoller benehme, so daß ihm also sein Scharfsinn keinen besonders Gewinn brachte.

      »Eine unbezahlbare Frau, Nickleby«, bemerkte Squeers, als seine Ehehälfte hinauseilte und dabei den armen Haussklaven vor sich hinstieß. »Ich kenne keine zweite. Sie ist immer dieselbe, Nickleby, geschäftig, rührig, tätig, sparsam.«

      Nikolas seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken an die liebenswürdigen Aussichten, die sich ihm in diesem Hause auftaten, aber Squeers war zufällig zu sehr in Gedanken, um es zu bemerken.

      »Wenn ich in London oben bin, so gebrauche ich gewöhnlich die Redensart, daß sie den Knaben eine Mutter sei. Aber sie tut Dinge für die Jungen, Nickleby, daß ich wohl behaupten kann, die Hälfte aller Mütter vermöchte nicht, etwas der Art für ihre eigenen Söhne zu tun.«

      »Das glaube ich gerne, Sir«, entgegnete Nikolas doppelsinnig.

      Das Wahre an der Sache war übrigens, daß beide, Mr. und Mrs. Squeers, die Zöglinge sozusagen als ihre natürlichen Feinde betrachteten, aus denen soviel wie möglich herauszupressen ihre Pflicht und ihr Beruf sei. Über diesen Punkt waren beide einig und richteten demgemäß ihr Benehmen ein. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war nur, daß sie den Krieg gegen die Feinde offen und furchtlos führte, während er, auch zu Hause seine Niederträchtigkeit mit dem Mäntelchen seiner gewohnten Verstellung verhüllend, sich einreden zu wollen schien, daß er im Grunde genommen eigentlich eine seelensgute Haut wäre.

      »Aber kommen Sie«, unterbrach er einen ähnlichen Gedankengang in dem Geiste seines Hilfslehrers. »Wir wollen jetzt in die Klasse gehen. Helfen Sie mir in meinen Schulrock, Nickleby.«

      Nikolas half seinem Brotherrn, ein altes barchentnes Jagdwams anzuziehen, das auf einem Kleiderständer im Hausflur hing, und Squeers bewaffnete sich mit seinem spanischen Rohr und führte ihn über einen Hof zu einer Türe des Hinterhauses.

      »So«, sagte er, als sie mitsammen eintraten, »dies ist unsere Werkstatt.«

      In der »Werkstatt« bot sich ein so buntes Schauspiel, und soviel Sonderbares entrollte sich dem Auge, daß Nikolas im Anfang nur herumschauen konnte, ohne irgend etwas genauer zu unterscheiden. Nach und nach löste sich jedoch das Bild in ein kahles schmutziges Zimmer mit ein paar Fenstern auf, an denen übrigens das Glas kaum den zehnten Teil ausmachen mochte, da die Löcher darin mit Papier von alten Schreibbüchern geflickt waren. Ein paar lange, gebrechliche Tische, mit Messern zerschnitten, mit Tinte besudelt und auf jede nur mögliche Weise beschädigt, standen nebst einigen Bänken, einem besondern Pult für Mr. Squeers und einem zweiten für den Hilfslehrer umher. Die Decke war, wie bei einer Scheune, durch Querbalken und Sparren gestützt, und die Wände sahen so besudelt und geschwärzt aus, daß es unmöglich war, zu ermitteln, welche Farbe ihr ursprünglicher Anstrich, wenn ein solcher überhaupt vorhanden gewesen, gehabt haben mochte.

      Und erst die Zöglinge! Die jungen Aristokraten! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, daß ernste Bemühungen in dieser Höhle des Elends je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Nikolas' Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, abgezehrte Gesichter, hagere Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Mißgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben, im Wachstum unterdrückt, und andere, deren lange, dünne Beinchen die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten, drängten sich vor seinen Blicken. Da gab es Triefaugen, Hasenscharten, Klumpfüße, kurz jede erdenkliche Häßlichkeit und Entstellung, die auf eine unnatürliche Abneigung der Eltern oder auf ein Leben hindeutete, das von frühester Kindheit an nur Grausamkeit und Vernachlässigung