rechten Hand. »Frohsinn und Zufriedenheit müssen stets aufrechterhalten werden. Mobbs, komm her.«
Mobbs bewegte sich langsam nach dem Pulte hin und rieb sich in der Vorahnung, bald genug Anlaß dazu zu haben, die Augen und erhielt ihn auch in so hohem Maße, wie es sich ein Knabe nur wünschen kann, und wurde dann gleichfalls durch die Seitentür entfernt.
Mr. Squeers fuhr sodann fort, die noch übrigen Briefe zu öffnen. Einige erhielten Geld, das Mrs. Squeers zum Aufheben übergeben wurde, und andere bezogen sich auf verschiedene kleine Kleidungsstücke, wie Mützen usw., die aber alle nach Ansicht der Dame des Hauses bald zu groß, bald zu klein waren und für niemand als Master Squeers passen wollten, der die allergefügigsten Gliedmaßen zu haben schien, da ihm alles, was in die Anstalt kam, wie angegossen saß. Besonders sein Kopf mußte eine wunderbare Elastizität besitzen, da ihm Hüte und Mützen von jeder Weite gleich gut paßten. Nach Erledigung dieses Geschäftes wurden noch einige Lektionen heruntergehudelt, worauf sich Mr. Squeers in seinen Familienkreis zurückzog und dem Unterlehrer die Obhut über die Knaben in der äußerst kalten Schulstube überließ, in der, als es dunkel wurde, auch das Abendessen, bestehend aus Brot und Käse, ausgeteilt wurde.
In einer Ecke des Unterrichtszimmers, zunächst dem Pulte des Schulmeisters, befand sich ein kleiner Ofen, und an diesen setzte sich Nikolas, als er endlich allein war, und wünschte sich in dem Vollbewußtsein seiner Erniedrigung den Tod als willkommenen Erlöser herbei. Die Grausamkeiten, deren unfreiwilliger Zeuge er gewesen, Squeers' rohes und niederträchtiges Benehmen, selbst wenn dieser in guter Laune war, und überhaupt alles, was er an diesem schmutzigen Orte sah und hörte, vereinigte sich, diese trübe Stimmung hervorzurufen. Wenn er aber gar daran dachte, daß er dabei mitwirken und, gleichgültig, ob durch Verkettung von Umständen dazu gezwungen oder nicht, als Helfer und Mitschuldiger eines Systems erscheinen mußte, das nur Ekel und Widerwillen in seiner Seele hervorrief, so verabscheute er sich selbst, und es kam ihm vor, als ob die bloße Rückerinnerung an seine gegenwärtige Erniedrigung es ihm für alle Zeiten unmöglich machen müßte, sein Haupt dereinst wieder vor anständigen Leuten zu erheben.
Vorderhand war jedoch sein Entschluß gefaßt, und die Vorsätze der verflossenen Nacht blieben ungetrübt. Er hatte seiner Mutter und Schwester geschrieben, ihnen die glückliche Beendigung seiner Reise mitgeteilt, und von Dotheboys Hall so wenig wie möglich, und auch das wenige in möglichst heiterer Weise, berichtet. Er hoffte, wenn er bliebe, selbst hier einiges Gute wirken zu können, und andernfalls hingen die Seinigen zu sehr von der Gunst seines Onkels ab, als daß er sich schon jetzt dessen Groll hätte zuziehen dürfen.
Eine Erwägung beunruhigte ihn jedoch noch weit mehr als alles Widerwärtige seiner eigenen Lage, nämlich das voraussichtliche Los seiner Schwester. Sein Onkel hatte ihn hintergangen; stand da nicht auch zu befürchten, daß er sie in eine Umgebung bringen könne, in der ihre Schönheit und Jugend ihr einen größeren Fluch bedeuten könnten als Häßlichkeit und Alter? Ein schrecklicher Gedanke für einen an Händen und Füßen gebundenen Menschen! Doch war ja andererseits die Mutter bei ihr, und auch die Malerin – freilich ein sehr einfaches Wesen, das aber schließlich doch in und von der Welt lebte.
In solch quälende Gedanken vertieft, fiel sein Blick zufällig auf Smike, der vor dem Ofen kniete, ein paar abgesprungene Aschenfunken vom Vorsetzer auflas und sie wieder zurück ins Feuer warf. Der arme Junge hatte eben innegehalten, um einen verstohlenen Blick auf Nikolas zu werfen, und als er jetzt sah, daß er bemerkt worden, fuhr er zusammen, als fürchte er, dafür gezüchtigt zu werden.
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, beruhigte ihn Nikolas freundlich. »Friert es dich so?«
»N-e-i-n.«
»Du klapperst so mit den Zähnen?«
»Es friert mich nicht«, versetzte Smike rasch. »Ich bin Kälte gewöhnt.«
In seinem ganzen Benehmen verriet sich so augenscheinlich die Furcht, Anstoß zu erregen, und er war überhaupt so scheu und niedergedrückt, daß Nikolas sich des Ausrufs »Armer Junge!« nicht erwehren konnte.
Wenn er den bedauernswerten Leidensträger geschlagen hätte, so würde sich dieser wahrscheinlich ohne einen Laut davongeschlichen haben, so aber brach er in Tränen aus.
»Ach, du mein Gott«, jammerte er und schlug sich seine aufgesprungenen und schwieligen Hände vor das Gesicht, »mir bricht das Herz.«
»Still, still«, beruhigte ihn Nikolas und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sei ein Mann, du bist's ja fast an Jahren; Gott wird dir helfen.«
»An Jahren? O mein Gott, wie viele sind es jetzt schon? Wie viele Jahre sind dahingegangen, seit ich als kleines Kind hierhergekommen bin, jünger als irgendeines von denen, die jetzt da sind. – Wo sind sie alle?«
»Wovon sprichst du?« fragte Nikolas, bemüht, das arme, bald blödsinnige Geschöpf zur Vernunft zu bringen. »So rede doch!« »Meine Verwandten«, schluchzte Smike, »ich – meine – ach Gott, was habe ich gelitten!«
»Die Hoffnung stirbt nicht«, tröstete Nikolas, ohne zu wissen, was er sagte.
»Nein, nein«, jammerte der Bursche, »nein, für mich gibt's keine mehr. Erinnern Sie sich noch des Knaben, der hier gestorben ist?«
»Du weißt, ich war damals noch nicht hier«, sagte Nikolas sanft, »aber was ist's mit ihm?«
»Ich habe bei ihm gewacht, und als alles still um uns her war, hat er nicht mehr nach seinen Eltern und Verwandten gerufen, daß sie sich an sein Bett setzen möchten, sondern fing an, Gesichter um sich her zu sehen. Er sagte, sie lächelten ihm zu und sprächen mit ihm, und endlich richtete er den Kopf auf, um sie zu küssen, und starb. – Hören Sie?«
»Ja, ja, ich höre«, entgegnete Nikolas.
»Welche Gesichter werden mir zulächeln, wenn ich sterbe?« fuhr Smike schaudernd fort. »Wer wird zu mir sprechen, wenn die langen Nächte kommen? Sie können nicht von Hause kommen; sie würden mich erschrecken, wenn sie es täten, denn ich weiß nichts von einem Zuhause und würde sie nicht kennen. Für mich gibt's nur Furcht und Leiden, Furcht und Leiden im Leben und im Tod, aber keine Hoffnung, keine Hoffnung.«
Die Glocke läutete zum Schlafengehen, und Smike, der bei ihrem Klang sofort wieder in seinen gewohnten, gleichgültigen Stumpfsinn verfiel, schlich fort, als scheue er sich, bemerkt zu werden.
Bald darauf folgte ihm Nikolas, da er kein eigenes Gemach hatte, nach dem schmutzigen und überfüllten gemeinsamen Schlafsaal.
9. Kapitel: Von Miss Squeers, Mrs. Squeers, Master und Mr. Squeers und andern mit ihnen in Verbindung stehenden Personen
Als Mr. Squeers abends die Schulstube verließ, begab er sich nach seinem Wohnzimmer. Aber nicht in das, wo Nikolas bei seiner Ankunft zu Abend gespeist, sondern in ein kleineres im Hintergebäude, wo seine huldreiche Gattin, sein hoffnungsvoller Sohn und seine liebenswürdige Tochter sich des Glücks ungetrübten Familienlebens erfreuten. Mrs. Squeers war in die hausmütterliche Beschäftigung des Strümpfestopfens vertieft, während das junge Fräulein und Master Squeers irgendeine jugendliche Meinungsverschiedenheit vermittels eines Faustkampfes über den Tisch hinüber erörterten, was sich bei Annäherung des ehrenwerten Herrn Papas in einen geräuschlosen Austausch von Fußtritten unter dem Tisch verwandelte.
Miss Fanny Squeers stand im dreiundzwanzigsten Jahre, und wenn Anmut und Liebenswürdigkeit von dieser Lebensperiode unzertrennlich sind, warum nicht auch in diesem Falle? Sie war nicht so groß wie ihre Mutter, sondern ähnelte in dieser Beziehung eher ihrem Vater, hatte aber von der ersteren die rauhe Stimme, während von letzterem der merkwürdige Ausdruck des Auges auf sie übergegangen war, das ganz das Aussehen hatte, als ob es blind wäre.
Miss Squeers war eben erst von einem mehrtägigen Besuch bei einer benachbarten Freundin in das väterliche Haus zurückgekehrt, welchem Umstande es zuzuschreiben sein mochte, daß sie noch nichts von dem neuen Hilfslehrer gehört hatte und dessen Anwesenheit erst erfuhr, als ihr Vater selbst darauf zu sprechen kam.
»Nun, mein Schatz«, begann Squeers und rückte sich seinen Stuhl