Charles Dickens

Nikolas Nickleby


Скачать книгу

dabei, wahrscheinlich um anzudeuten, daß auch ihr Herz unendlich weich sei. Nikolas korrigierte die Feder, und dann ließ Miss Squeers sie fallen, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, bückte sie sich gleichfalls, beide stießen mit den Köpfen zusammen, und fünfundzwanzig Kinderkehlen lachten fröhlich auf – gewiß zum ersten und einzigen Male in diesem Semester.

      »Wie ungeschickt von mir«, entschuldigte sich Nikolas und öffnete der jungen Dame die Türe.

      »Ganz und gar nicht, Sir«, versetzte Miss Squeers, »es war lediglich meine Schuld. – Ich – ach – guten Morgen.«

      »Ihr Diener«, sagte Nikolas. »Wenn ich Ihnen wieder eine Feder schneide, so wird's, hoffe ich, besser gehen. Nehmen Sie sich in acht, Sie beißen die Spitze ab.«

      »Wirklich?« stotterte Miss Squeers. »Ich bin so verlegen, daß ich kaum weiß, was ich –, es tut mir wirklich sehr leid, Ihnen so viele Mühe gemacht zu haben.«

      »Durchaus keine Mühe«, versicherte Nikolas und schloß die Türe der Schulstube.

      »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine solchen Beine gesehen«, murmelte Miss Squeers im Fortgehen.

      In Wirklichkeit hatte sie sich auf den ersten Blick heftig in Nikolas Nickleby verliebt.

      Und mit ein Hauptgrund dafür war, daß die Freundin, bei der sie kürzlich zu Besuch gewesen – eine Müllerstochter von ungefähr achtzehn Jahren –, sich vor einiger Zeit mit dem Sohne eines kleinen Kornhändlers in dem nächsten Marktflecken verlobt hatte.

      Miss Squeers und die Müllerstochter waren nun Busenfreundinnen gewesen und hatten, wie das unter jungen Damen so üblich, die Übereinkunft getroffen, daß jede, wenn sie im Sinn habe, sich zu verloben, das wichtige Geheimnis sofort der Freundin als der ersten lebenden Seele anvertrauen und sie als Brautjungfer erkiesen müsse. Diesem Versprechen getreu war denn auch die Müllerstochter sofort nach Abschluß ihrer Verlobung, das heißt vierzig Minuten später, nachts um elf Uhr herausgefahren und in Miss Squeers' Schlafzimmer geeilt, um ihr diese erfreuliche Botschaft nicht länger vorzuenthalten. Da aber nun Miss Squeers um volle fünf Jahre älter war, so hatte sie begreiflicherweise seitdem nichts sehnlicher gewünscht, als dieses Vertrauen so schnell wie möglich erwidern und ihre Freundin in ein ähnliches Geheimnis einweihen zu können. Aber, ob es nun so schwer hielt, ihr zu gefallen, oder vielleicht noch schwerer, daß sie jemand gefiel, es wollte und wollte sich ihr keine Gelegenheit bieten, Geheimnisse mitzuteilen. Kaum hatte jedoch der eben beschriebene kleine Vorfall mit Nikolas stattgefunden, so setzte Miss Squeers ihren Hut auf, lief in größter Eile zu ihrer Freundin und enthüllte ihr nach einer feierlichen Wiederholung des früheren Verschwiegenheitsgelübdes, daß sie zwar noch nicht wirklich verlobt, aber doch im Begriffe sei, sich mit dem Sohne eines Gentlemans zu versprechen; nicht etwa mit einem Kornhändler oder dergleichen, sondern mit dem Sohne eines wirklichen Gentlemans, der unter höchst geheimnisvollen und merkwürdigen Umständen als Lehrer nach Dotheboys Hall gekommen sei – in der Tat nur, wie Miss Squeers aus vielen Gründen glauben zu dürfen versicherte, um, angelockt durch den Ruf ihrer Reize, ihre Bekanntschaft zu machen und um sie anzuhalten.

      »Ist das nicht wirklich fabelhaft?« schloß Miss Squeers ihren Bericht und wiederholte immer wieder das letzte Wort.

      »Allerdings sehr außerordentlich«, gab die Freundin zu. »Aber was hat er denn zu dir gesagt?«

      »Frag mich nicht, was er zu mir gesagt hat, meine Liebe«, entgegnete Miss Squeers. »Wenn du seine Blicke und sein Lächeln gesehen hättest! Ich war in meinem Leben noch nie so überwältigt.«

      »Hat er dich vielleicht so angesehen?« fragte die Müllerstochter und machte so gut wie möglich einen Liebesblick des Kornhändlers nach.

      »Ja, ungefähr. Nur viel vornehmer«, sagte Miss Squeers.

      »Ah«, erklärte die Freundin, »dann hat er etwas im Sinn. Verlaß dich drauf.«

      Miss Squeers, die zwar noch einiges Bedenken bei der Sache hatte, ließ sich nicht ungern durch eine so kompetente Autorität in ihren Herzenswünschen bestärken, und als sich im Verlauf der Unterhaltung hinsichtlich charakteristischer Liebesmerkmale in vielen Punkten eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Benehmen des Hilfslehrers und dem des Kornhändlers herausstellte, wurde sie so außerordentlich zutraulich, daß sie ihrer Freundin eine Menge Dinge erzählte, die Nikolas zwar nicht gesagt hatte, die aber so ungemein schmeichelhaft waren, daß sie auch nicht mehr den mindesten Zweifel zuließen. Sie sprach dann von dem harten Geschick, Eltern zu haben, die ihrem zukünftigen Gatten durchaus abgeneigt wären, und ließ sich über diesen traurigen Umstand um so ausführlicher aus, als die Eltern ihrer Freundin vollständig einverstanden mit der Verlobung ihrer Tochter gewesen waren und die Sache in diesem Falle einen ganz alltäglichen Verlauf genommen hatte.

      »Ich möchte ihn aber doch auch sehen«, meinte die Freundin neugierig.

      »Das sollst du auch, Tilda«, versprach Miss Squeers. »Ich müßte das undankbarste Geschöpf auf Erden sein, wenn ich es dir abschlüge. Ich glaube, meine Mutter verreist nächstens auf ein paar Tage, um einige Zöglinge zu holen, und dann werde ich dich und deinen John zum Tee bitten. Bei dieser Gelegenheit könnt ihr ihn dann kennenlernen.«

      Das war ein herrlicher Gedanke, und nachdem die Sache noch gehörig durchgesprochen worden, trennten sich die Freundinnen.

      Es traf sich, daß die Reise, die Mrs. Squeers antreten sollte, um drei neue Schüler zu holen und die Verwandten zweier alter um Begleichung einer kleinen Rechnung zu pressen, bereits auf übermorgen festgesetzt wurde. Mrs. Squeers bestieg zur festgesetzten Zeit einen Außensitz der Postkutsche, als diese in Greta Bridge Halt machte. Sie nahm ein kleines Bündel mit, das eine Flasche Likör nebst einigen Brot- und Fleischschnitten enthielt, versah sich mit einem großen Mantel, um sich des Nachts darin einzuhüllen, und trat mit diesem Gepäck ihre Reise an.

      Bei derartigen Gelegenheiten pflegte Mr. Squeers unter dem Vorwande dringender Geschäfte jeden Abend nach dem Marktflecken zu fahren, wo er dann jedesmal bis zehn oder elf Uhr in einem von ihm sehr geschätzten Wirtshause verweilte. Da ihm daher das Teekränzchen durchaus nicht im Wege war und sogar noch dazu diente, Miss Squeers' Verdacht abzulenken, so gab er ohne weiteres seine Einwilligung dazu und hatte auch nichts dagegen, in eigener Person Nikolas die Mitteilung zu machen, daß er abends um fünf Uhr im Wohnzimmer zum Tee erwartet würde.

      Begreiflicherweise befand sich Miss Squeers, als der große Zeitpunkt immer näher rückte, in nicht geringer Verwirrung; jedenfalls unterließ sie nichts, um sich aufs vorteilhafteste herauszuputzen. Ihr Haar, das einen leidigen Stich ins Rötliche hatte und sich auch keiner besondern Länge erfreute, fiel ihr vom Scheitel in fünf korkzieherartigen Lockenreihen herab und verhüllte kunstreich die Mängel des zweifelhaften Auges, gar nicht zu reden von der blauen Schärpe, deren Enden rückwärts herunterbaumelten, der gestrickten Schürze, den langen Handschuhen, der grünen, über die Schulter geworfenen und unter den Armen zugeknüpften Gazeschärpe und den übrigen zahlreichen Toilettenkniffen, die ebenso viele für Nikolas' Herz bestimmte Pfeile bedeuteten. Diese Vorkehrungen waren kaum zu Miss Squeers' voller Zufriedenheit beendigt, als ihre Freundin mit einem weiß und braun gewürfelten Päckchen ankam, das einige kleine Putzartikel enthielt, die sie erst hier anziehen wollte, was sie denn auch unter unablässigem Geplauder tat. Als die jungen Damen einander noch das Haar geordnet hatten und aber auch gar nichts mehr an sich auszusetzen fanden, zogen sie ihre langen Handschuhe an und rauschten in vollem Staat die Treppe hinunter in das Zimmer, wo bereits alles für den Empfang der Gesellschaft bereit stand.

      »Wo ist John, Tilda?« fragte Miss Squeers.

      »Nur nach Hause gegangen, um sich umzukleiden«, versetzte die Müllerstochter. »Er wird aber hier sein, noch ehe der Tee fertig ist.«

      »Wie mir das Herz klopft«, seufzte Miss Squeers.

      »Oh, das kenne ich«, sagte Tilda.

      »Weißt du, Tilda, ich bin es nicht gewöhnt«, lispelte Miss Squeers und legte die Hand an die linke Seite ihrer Schärpe.

      »Ach, das gibt sich bald, meine Liebe«, tröstete die Müllerstochter.

      Inzwischen