Charles Dickens

Nikolas Nickleby


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gewesen. Ein Bild der Kindheit, der der Glanz der Augen erloschen, deren Schönheit entschwunden, und wo nur die Hilflosigkeit allein zurückgeblieben war. Boshafte Gesichter mit bleiernen Augen, wie man sie bei Verbrechern im Gefängnis sieht, vor sich hinbrütend, und arme Geschöpfe, die die Sünden ihrer Eltern büßten und sich nach den gedungenen Wärterinnen sehnten, dem einzigen Lichtblick, den sie gekannt, als sie noch nicht ganz verlassen und einsam waren. Eine Höllensaat wurde hier großgezogen, in der Mitgefühl und Liebe schon bei der Geburt erstickt und jedes frische und jugendliche Denken durch Prügel und Hunger ausgerottet wurde und jede der Rachsucht entquellende Leidenschaft sich leise ihre Eitergänge bis in das Innerste eines zertretenen Herzens fraß.

      Und doch hatte das Schauspiel, das sich da entrollte, so schmerzlich es war, etwas so Groteskes, daß ein minder beteiligter Zuschauer als Nikolas vielleicht ein Lächeln kaum hätte unterdrücken können. Mrs. Squeers stand hinter einem Lehrpult, eine ungeheuere Schüssel mit Schwefel und Sirup vor sich, und gab von dieser köstlichen Mischung jedem Kind eine starke Dosis, wobei sie sich eines ursprünglich wohl für einen Riesen angefertigten hölzernen Löffels bediente, der den Mund eines jeden der jungen Herren um ein beträchtliches erweiterte, da sie unter Strafandrohungen den ganzen Löffel voll auf einmal hinunterschlucken mußten. In einer Ecke der Stube hatten sich die neuen in der Nacht angekommenen kleinen Jungen zusammengedrängt, drei von ihnen in ungemein weiten Lederhosen und zwei in alten Pantalons, die womöglich noch enger anlagen, als man es bei gewöhnlichen Trikotunterhosen zu sehen pflegt. In einer kleinen Entfernung von ihnen saß Mr. Squeers' jugendlicher Sohn und Erbe, ein sprechendes Ebenbild seines Vaters, und wehrte sich aus Leibeskräften und mit Händen und Füßen gegen Smike, der ihm ein Paar neue Stiefel von verdächtigter Ähnlichkeit mit denen, die der kleinste der neuen Ankömmlinge auf der Herreise getragen hatte, anzuziehen bemüht war. Außerdem stand eine lange Reihe von Knaben harrend da, freilich mit Gesichtern, die nicht das angenehmste Vorgefühl hinsichtlich des Geschwefeltwerdens ausdrückten, während ein anderes Häuflein, das eben diese Tortur überstanden hatte, durch allerhand Mundverzerrungen andeutete, daß dieses Löffeltraktament gerade nicht zu den angenehmsten gehörte.

      Die Knaben waren insgesamt so buntscheckig, schlecht zusammenpassend und ungewöhnlich gekleidet, daß man sich des Lachens nicht hätte erwehren können, wäre nicht der ekelhafte Anblick von Schmutz, Mißwirtschaft und Siechtum damit verbunden gewesen.

      »Nein«, sagte Squeers und schlug mit dem spanischen Rohr so heftig auf den Tisch, daß die Hälfte der Jungen beinahe aus ihren Stiefeln gesprungen wäre. »Ist das Doktern endlich vorbei?«

      »Sofort«, erwiderte Mrs. Squeers und klopfte das letzte Kind, das sie in der Eile fast erstickt hätte, mit dem hölzernen Löffel auf den Kopf, um es wieder zu sich zu bringen. »Smike, nimm die Schüssel fort. Rasch.«

      Smike hinkte mit der Schüssel hinaus, und die Dame folgte ihm, nachdem sie sich zuvor die schmutzigen Finger an dem Lockenkopf eines Jungen abgewischt hatte, hastig nach einer Art Waschhaus, in dem ein kleines Feuer unter einem großen Kessel brannte und eine Anzahl kleiner hölzerner Näpfe auf einem Tische umherstanden.

      In diese Näpfe goß sie, assistiert von dem ausgehungerten Dienstmädchen, ein braunes Gemisch, das wie Lohbrühe aussah und Suppe genannt wurde. In jeden Napf kam ein winziges Scheibchen Schwarzbrot, und als die Zöglinge ihre Suppe mit dem Brot ausgelöffelt und hinterdrein auch den Löffel verzehrt hatten, womit das Frühstück beendigt war, sprach Mr. Squeers weihevoll: »Herr, lasset uns danken für alles Gute, was wir von dir empfangen haben«, und begab sich hinaus, um seinerseits sich daran zu erquicken, was ihm der Herr bescherte.

      Nikolas spülte sich den Magen mit einem Napf Suppe aus; wohl aus demselben Grunde, der gewisse Wilde veranlaßt, Erde zu verschlucken, um die mahnenden Eingeweide zu besänftigen, wenn nichts zu essen da ist. Und nachdem er noch eine Brotschnitte mit Butter verzehrt hatte, die ihm in seiner Eigenschaft als Lehrer zuteil wurde, setzte er sich nieder und wartete, bis der Unterricht begänne.

      Es konnte ihm natürlich nicht entgehen, daß statt frischen Lebensmutes nur stumme Trauer unter den Kindern herrschte. Keine Spur von dem Tumult und Lärmen eines Schulzimmers, nichts von geräuschvollen Spielen oder herzlicher Fröhlichkeit. Die Kleinen kauerten sich zitternd zusammen und schienen sich nicht zu getrauen, sich auch nur zu bewegen. Der einzige Zögling, der einigermaßen Neigung zu Scherz an den Tag legte, war der junge Master Squeers. Da aber seine Hauptbelustigung darin bestand, mit seinen Stiefeln den anderen auf die Zehen zu treten, so bot seine Munterkeit gerade keinen besonders erfreulichen Anblick.

      Nach einer halben Stunde trat Mr. Squeers wieder ein. Die Knaben gingen an ihre Plätze und griffen nach ihren Büchern, von denen durchschnittlich eines auf etwa acht Schüler kam. Der Schulmeister nahm einige Minuten eine sehr gelehrte Miene an, als wisse er alles auswendig und könne jedes Wort aus dem Kopfe hersagen, wenn er sich nur die Mühe dazu nehmen wollte, und rief dann die erste Klasse auf.

      Dem Befehle gehorsam stellten sich etwa ein halbes Dutzend Vogelscheuchen mit an den Knieen und Ellenbogen durchlöcherten Kleidern vor seinem Pulte auf, und eine davon unterbreitete ein zerrissenes und beschmutztes Buch seinem gelehrten Auge.

      »Dies ist die erste Klasse. Sie erhält Unterricht im Lesen und in der Philosophie, Nickleby«, erklärte Squeers und winkte Nikolas näher heran. »Wir wollen später auch eine Lateinklasse gründen und sie Ihnen übertragen. – Also gut. Wo ist unser Primus?«

      »Er putzt in der hintern Stube die Fenster«, hauchte der Zugführer der philosophischen Klasse.

      »Ja, richtig«, brummte Squeers. »Wir halten uns an die praktische Lehrmethode, Nickleby; das einzige richtige Erziehungssystem. P-u-tz, Putz, e-n, en, Putzen, Zeitwort, reinmachen, reinigen, F-e-n, Fen, s-t-e-r, ster, Fenster. Eine mit einer durchsichtigen Substanz verwahrte Öffnung, durch die Licht in die Häuser fällt. – Wenn ein Knabe etwas der Art aus dem Buche gelernt hat, so geht er hin und tut es. Wir folgen hier ganz demselben Grundsatz, den man bei dem Gebrauch der Erdgloben in Anwendung bringt. Wo ist der Zweite?«

      »Er jätet im Garten Unkraut aus«, rief eine zarte Stimme.

      »So ist es«, fuhr Squeers fort, ohne aus der Fassung zu kommen, »so ist's. B-o, Bo, d-a, da, Boda, n-i-k, nik, Bodanik, Hauptwort, Kenntnis der Pflanzen. – Wenn er gelernt hat, daß »Bodanik« Kenntnis der Pflanzen bedeutet, so geht er hin und lernt sie kennen. Dies ist mein System, Nickleby. Was halten Sie davon?«

      »Jedenfalls sehr nutzbringend«, sagte Nikolas doppelsinnig.

      »Das will ich meinen«, entgegnete Squeers, dem die ironische Betonung seines Hilfslehrers nicht weiter auffiel. »Nun, du Dritter, was ist ein Pferd?«

      »Ein Tier, Sir«, antwortete der Knabe.

      »Richtig«, lobte Squeers. »Stimmt's, Nickleby?«

      »Ich glaube, daß hier kein Zweifel obwalten kann, Sir«, meinte Nikolas.

      »Natürlich nicht. Ein Pferd ist ein Quadruped, und Quadruped ist das lateinische Wort für Tier, wie jeder, der die Grammatik durchgemacht hat, weiß, denn wo läge sonst der Nutzen der Grammatik?«

      »In der Tat, wo läge er«, bestätigte Nikolas zerstreut.

      »Da du deine Sache so gut gemacht hast«, lobte Squeers den Schüler, »so geh in den Stall, sieh nach meinem Pferd und striegle es ordentlich, sonst will ich dich striegeln. Die übrigen der Klasse scheren sich hinaus und schöpfen Wasser, bis man sie aufhören heißt, denn die Kessel müssen für den morgigen Waschtag gefüllt werden.« Mit diesen Worten entließ er die erste Klasse zu ihren praktischen Übungen in der Philosophie und sah Nikolas mit einem halb verschmitzten, halb unsichern Blick an, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck dieses Verfahren auf seinen Hilfslehrer gemacht habe.

      »So wird die Sache bei uns betrieben, Nickleby«, sagte er nach einer langen Pause.

      Nikolas zuckte kaum merklich die Achseln und sagte, daß ihn dies der Augenschein lehre.

      »Es ist wirklich eine sehr gute Methode«, fuhr Squeers fort. »Doch lassen Sie jetzt die vierzehn kleinen Knaben lesen, denn Sie müssen anfangen, sich nützlich zu machen. Faulenzerei gibt's bei uns nicht.«