der Aufklärer Lüdke explizit gestellt hat, den Hamburger Orthodoxen die Einführung eines neuen Papsttums vorgeworfen hatte, so kritisierte auch Lüdke im Blick auf die Hochschätzung der Bekenntnisse und die damit verbundene Verfestigung der (innerprotestantischen) Lehrdifferenzen,
»daß wir ein neues Pabstthum unter uns einführen, einer freien und gewissenhaften Untersuchung der Wahrheit in der evangelischen Kirche Grenzen setzen, um bloßer Nebenmeinungen willen, ob wir gleich Brüder sind, unter uns Zank seyn lassen und in dem sektirischen Geiste der Korinther sprechen wollen: Einer, ich bin lutherisch, der andere ich bin calvinisch, der dritte ich bin christisch [vgl. I Kor 1,12]« (63).
Der von Lüdke kritisierte intolerante Glaubenseifer, der gerade auch die »Nebenmeinungen« der in den Bekenntnisschriften enthaltenen konfessionsspezifischen Lehren zum unveräußerlichen Bestandteil der Rechtgläubigkeit erhebt, boykottiert nicht nur die stets nötige Weiterentwicklung der christlichen Lehre; er verfehlt vor allem die eigentliche Pointe des christlichen Glaubens. Denn er »hindert […] mit dem aufgehaltenen Wachsthum einer gründlichern Erkentniß |69|im Christenthum den Wachsthum einer gereingtern und gewissenhaftern Tugend« (140). – Das dogmatische Innovationsinteresse der Aufklärungstheologen wurde also von Lüdke theologisch mit dem Hinweis auf die reformatorische Kritik am päpstlichen Anspruch auf Lehrhoheit – und insofern im Rekurs auf das protestantische Freiheitsprinzip – gerechtfertigt. Aus juristischer Perspektive – und damit ist erneut die oben schon erwähnte religionspolitische Relevanz der symbolischen Bücher angesprochen – ergab sich freilich das Problem einer Spannung zwischen theologischen Neuerungen und der 1555 bzw. 1648 geschaffenen konfessionspolitischen Situation im Reich, die, was die rechtliche Duldung der Protestanten anging, die Verbindlichkeit der reformatorischen Bekenntnisse für die öffentliche Lehre in den evangelischen Territorien prinzipiell voraussetzte. Ein stets wiederholtes Argument gegen eine Einschränkung der Bekenntnisgeltung lautete daher: »Die reichsrechtliche Anerkennung des Protestantismus basiert auf dem Bekenntnis zur Augustana. Lossagung von dieser Grundlage könnte leicht katholischen Reichsständen Vorwand werden, die Garantien des Augsburgischen resp. Westfälischen Friedens zurückzunehmen.«[31]
Ein prominenter Versuch, die um der evangelischen Freiheit willen unaufgebbare Offenhaltung einer Weiterentwicklung der theologischen Lehre mit den reichsrechtlich verankerten politischen Stabilitätsinteressen auszugleichen, stammt von Johann Salomo Semler. Nach Semlers Auffassung erstreckte sich die Verbindlichkeit der Bekenntnisse des 16. Jh. (lediglich) auf die öffentliche kirchliche Verkündigung, ohne zugleich die privaten Glaubensüberzeugungen aller Christen gleichzeitig umfassend zu normieren.[32] Die der öffentlichen Religionsverkündigung zugrunde liegenden Lehren sind danach lediglich ein staatlich garantierter Rahmen, innerhalb dessen sich die individuellen Glaubensüberzeugungen frei, d.h. ohne Gewissenszwang, entfalten können.[33] Die faktisch bestehende Differenz zwischen dem persönlichen Glauben einerseits und der traditionellen kirchlichen Lehre andererseits hat Semler mit seiner Unterscheidung |70|von Religion und Theologie konzeptualisiert; die individuelle Religiosität des einzelnen Christen sollte dadurch entkoppelt werden von der staatlich sanktionierten christlichen Lehre sowie von den wissenschaftlichen Debatten der Fachtheologen.[34] Damit waren die individuelle Glaubensfreiheit sowie die fachtheologische Kritik an den Bekenntnisschriften und die Debatten über ihre Verbindlichkeit religionspolitisch neutralisiert und mit dem landesherrlichen Interesse an einer Kanalisierung der religiösen Individualisierung und Pluralisierung prinzipiell vermittelt.
2.3 Schleiermacher und die Bekenntnisschriften[35]
Die Frage, »welchen Stellenwert er den Bekenntnisschriften der Reformationszeit für das kirchliche Leben und die theologische Arbeit der Gegenwart beigemessen hat«, hat Friedrich Schleiermacher vornehmlich in drei Texten behandelt, die jeweils in eine konkrete »theologisch-kirchenpolitische Tagesdebatte eingreifen«.[36] Dabei handelt es sich (1) um die 1818 entstandene und im Folgejahr publizierte Schrift »Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher«.[37] Im Hintergrund stand dabei der sog. Ammonsche Streit, der wiederum im theologiegeschichtlichen Kontext des Reformationsjubiläums von 1817 zu würdigen ist.[38] Darüber hinaus sind zwei Texte zu nennen, die in das zeitliche Umfeld der dritten Säkularfeier der Übergabe der »Confessio Augustana« an Kaiser Karl V. am 25. Juni 1530 gehören. Zu nennen ist dabei (2) der im Oktober 1830 erschienene Aufsatz »An die Herren D.D.D. von Cölln und D. Schulz«,[39] der sich mit dem von Daniel Georg |71|Konrad von Cölln und David Schulz gemeinsam verantworteten Votum vom April 1830 zum Halleschen Theologenstreit auseinandersetzt.[40] Mit seiner Stellungnahme provozierte Schleiermacher eine kritische Replik der Breslauer Kollegen,[41] auf die er seinerseits in der (3) Vorrede zur 1831 publizierten Sechsten Sammlung von zehn im Sommer und Herbst 1830 gehaltenen »Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession« reagierte.[42] In seiner (schon herangezogenen) 1989 publizierten Göttinger Habilitationsschrift hat Martin Ohst nicht nur die genannten Texte untersucht,[43] sondern auch herausgearbeitet, dass die Auffassung des Kirchenvaters des 19. Jh. zur Gegenwartsrelevanz der protestantischen Ursprungsdokumente als »eine Anwendung der individualitätstheoretischen Seite von Schleiermachers Reformations- und Protestantismusdeutung« zu verstehen ist.[44]
Schleiermachers Position zum Stellenwert der Bekenntnisschriften lässt sich, soweit es für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, in zwei Punkten zusammenfassen.
a) Einerseits hat sich Schleiermacher stets kritisch gegen die (nach den Befreiungskriegen von Vertretern des lutherischen Konfessionalismus erhobene) Forderung, gewendet, »den kirchlichen Bekenntnißschriften ein bindendes Ansehen« zuzugestehen, »kraft dessen ihr Inhalt die Norm der öffentlichen Lehre wenigstens in allen gottesdienstlichen Handlungen seyn würde«.[45] Noch in der Vorrede zu den Augustana-Predigten hat er – gegen eine missverständliche |72|Formulierung im ersten der Cölln-Schulzschen Antwortschreiben (Anm. 41) – betont, sein Votum vom Oktober 1830 (Anm. 39) sei »nichts anderes […] als eine Protestation gegen etwanige Einführung einer solchen Verpflichtung«.[46] Dem berechtigten Interesse an »Einheit und Festigkeit« der evangelischen Kirche wird nämlich, so Schleiermacher, gerade nicht mit dem »Joch eines Buchstabens« gedient; für effektiver hält er die »zwanglose Stärkung der Kraft öffentlicher Einrichtungen und eines gemeinsamen Lebens«, sofern dadurch die »freie Übereinstimmung im Glauben« gefördert wird.[47] Auch in seiner am 20. Juni 1830 gehaltenen Augustana-Predigt hat Schleiermacher im Anschluss an 1 Kor 7,23 (»Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte«) vor einem Rückfall in die Knechtschaft des Buchstabens dieser Bekenntnisschrift gewarnt. – »Wohl! gesezt nun, wir wären von dieser [durch Paulus in IKor 7,23 kritisierten] Knechtschaft todter Werke zurückgekommen, wir ließen diese auch nicht wieder aufleben, aber wir ließen uns auflegen ein Joch todter Worte und eines todten Glaubens, wir ließen uns binden von einem der da sagte, so nur und nur so muß über dieses geredet werden […]; das wäre nicht eine mindergefährliche, ja ich muß es gerade heraussagen, eine schlimmere Knechtschaft als jene.«[48] Gleichwohl möchte Schleiermacher die Bekenntnisschriften ausdrücklich nicht in den Status nur historischer Dokumente zurückstufen, denen keine besondere Bedeutung für die evangelische Kirche zukommt und die deshalb »mit den Verhandlungen anderer untergeordneten Religionsgespräche« und »mit den dogmatischen Erzeugnissen anderer wohlgesinnter und ausgezeichneter einzelnen« auf einer Stufe stehen. Dies würde »einen gänzlichen Mangel an geschichtlichem Sinne […] verrathen«, eine Ignoranz gegenüber dem »gewaltige[n] Unterschied […] zwischen ersten entscheidenden Augenblicken und zwischen dem nachherigen Verlaufe«. Die reformatorischen Bekenntnisse sind nämlich gleichsam das Resultat eines Kairos; bei ihnen handelt es sich um »das Erste […], worin sich auf eine öffentliche und bleibende Weise der protestantische Geist ausgesprochen hat«.[49]
|73|b) Andererseits – und dies hängt mit dem zuletzt zitierten Gedanken zusammen – hat sich Schleiermacher bei aller Betonung der Freiheit vom Buchstaben der symbolischen Bücher nachdrücklich gegen den Vorschlag gewendet, die tradierten durch neue (aktualisierte, d.h. von etwaigen Anstößigkeiten gereinigte) Bekenntnisse zu ersetzen. Er hält also an der Voraussetzung fest, »daß unsere Symbole selbst unveränderlich sind, und keine neuen an die Stelle der alten können gesetzt werden«.[50] Wegen des