Markus Öhler

Geschichte des frühen Christentums


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Einzelfall aber auch aufschlussreich sein. Die Nachrichten der Kirchenväter, wie z. B. von Irenäus oder Euseb, sind ähnlich zu beurteilen: Sie bieten direkte Nachrichten über bestimmte Ereignisse, freilich oft in Abhängigkeit von der Apostelgeschichte. Häufig sind sie legendarisch überformt, manchmal sogar frei erfunden, im Einzelfall aber u. U. glaubwürdig.

      (Antike Historiker)

      Abgesehen von christlichen Quellen sind Zeugnisse antiker Historiker heranzuziehen, wobei auch hier deren jeweiliges Darstellungsinteresse zu beachten ist. Diese bieten zwar so gut wie keine Informationen über das Christentum, helfen uns aber, die Ereignisse in einen größeren historischen Rahmen zu stellen. Zur Geschichte des frühen Judentums ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (gest. um 100 n. Chr.) von größter Bedeutung, vor allem seine Bücher über den 1. Judäischen Aufstand Bellum Iudaicum (bell.) und die Geschichte des judäischen Volkes Antiquitates Iudaicae (ant.). Auch der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (gest. nach 40 n. Chr.) ist eine Informationsquelle ersten Ranges. Fallweise sind auch rabbinische Quellen durchaus weiterführend. Aus der griechisch-römischen Literatur sind Plinius der Jüngere, Tacitus, Sueton, Cassius Dio u.v.m. unentbehrlich, vor allem um die Welt der frühen Christusgläubigen besser zu verstehen.

      (Inschriften und Papyri)

      Die Rekonstruktion historischer Ereignisse der Antike kann allerdings nicht allein auf Grundlage literarischer Quellen erfolgen, sondern muss auch andere Zeugnisse zu integrieren versuchen. Hier sind zunächst Inschriften zu nennen, die uns über historische Umstände und soziale Verhältnisse informieren und manchmal für Datierungen von besonderer Bedeutung sind. Ähnlich ist dies bei papyrologischen Zeugnissen, wobei vor allem bei den zahlreichen nicht-literarischen Papyri der oftmals lokale und private Charakter mit zu bedenken ist. Hinzu treten archäologische Überreste der Antike, die nicht nur die Lebenswelt der ersten Christusgläubigen illustrieren, sondern u. U. Rekonstruktionen historischer Umstände bzw. Abläufe ermöglichen. Auch Münzen spielen schließlich eine wichtige Rolle.

      (Methodik)

      Zunächst und vor allem wird Geschichte historisch-kritisch erarbeitet, genauerhin durch die Sichtung der Quellen, die Qualifizierung ihrer historischen Zuverlässigkeit und die Einordnung der einzelnen Ereignisse in einen chronologischen Rahmen. Dabei wird jeweils das Interesse der antiken Autoren zu berücksichtigen sein, deren narrative Strategie und soziale wie religiöse Verankerung.

      (Re-Konstruktion)

      Wie jede Geschichtsforschung basiert auch die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums also auf der Interpretation von Quellen. Sie re-konstruiert eine Ereignisfolge, die sich nicht von selbst aus den Quellen erschließt, sondern erschlossen werden muss. Geschichtsschreibung erzählt so aus einer bestimmten Perspektive, die sich aus den Fragestellungen ergibt, aus der Position des Beobachters/der Beobachterin und dem Ziel seiner oder ihrer Erzählung. Wir interpretieren also die oben genannten Quellen und ordnen die Ergebnisse in einen Zusammenhang ein, den wir dann „Geschichte“ nennen. Diese Interpretationen und Zusammenhänge sollen nicht nur plausibel, also möglich sein, sondern im Rahmen der Methoden der Geschichtsforschung auch wahrscheinlich. Es muss nur stets bewusst bleiben, dass es sich um Konstruktionen handelt, nicht um Abbildung historischer Wirklichkeit oder die Wiedergabe von Fakten. Im Diskurs jener, die sich mit der Geschichte befassen, muss sich eine historische Rekonstruktion dann bewähren.

      (Neutralität)

      Aufgabe des Historikers/der Historikerin ist in diesem Prozess u. a. auch ein möglichst wertfreier Blick auf die Quellen, die herangezogen werden. Dazu gehört für unsere Fragestellung, dass nicht nur die Geschichte jener erzählt wird, die sich in der Gestaltwerdung des frühen Christentums durchsetzten, wie etwa Paulus oder Petrus. Auch die marginalisierten und in der Ausbildung der Mehrheitskirche des 2./3. Jh. n. Chr. untergegangenen Formen des Christusglaubens und deren Trägergruppen sind bedeutend. Sie sind gerade als Kontra-punkte zu den sich letztlich durchsetzenden Ansichten und deren Vertretern von großem Gewicht. Analog dazu werden auch nicht nur jene Personen in den Blick genommen, die an der Spitze einzelner Bewegungen standen, wie etwa die Apostel oder die Autoren neutestamentlicher Texte. Denn die Geschichte des frühen Christentums wurde nicht nur durch herausragende Figuren gestaltet, sondern vor allem auch durch jene, die nicht selbst zur Sprache kamen, deren Glaubensvollzug aber in sehr unterschiedlicher Weise die Ausformungen des frühen Christentums kennzeichnete.

      (Theologische Bedeutung)

      Ihre theologische Bedeutung hat die Teildisziplin „Geschichte des frühen Christentums“ innerhalb der neutestamentlichen Exegese vor allem darin, dass sie hilft, die Schriften des Neuen Testaments sowie weitere frühchristliche Texte im historischen Kontext zu lesen. Nur in diesem Kontext sind sie als geschichtlich gewordene Texte verstehbar und ist ihr Sinngehalt auch von der historischen Situation abstrahierbar und für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

      „Wie alle anderen historischen Texte auch, sind die Quellen des Urchristentums nicht einfach mit der Wirklichkeit, auf die sie verweisen, identisch, sondern beziehen sich auf diese in selektierender und interpretierender Weise. Sie tun dies, wie andere Texte auch, im Medium der Sprache, die den Zugang zur Wirklichkeit strukturiert und zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermittelt. Geschichte liegt nicht einfach in den Zeugnissen der Vergangenheit verborgen, sondern muss durch einen kreativen, sinnbildenden Akt aus ihnen erhoben werden.“ (Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft 855).

      „Die Ordnung von Geschehensabläufen oder die orientierende Deutung gibt es nicht erst durch narrative Vermittlung im Text, sie existiert bereits auf der Handlungs- und Wahrnehmungsebene selbst. Ereignisse oder auch Erlebnisse und Erfahrungen haben bereits im Moment des Geschehens narrative Strukturen. Sie sind nicht unsprachlich zu haben.“ (Zimmermann, Geschichtstheorien 433).

      Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993.

      James D. G. Dunn, Beginning from Jerusalem, Christianity in the Making 2, Grand Rapids/Cambridge 2009, 3–130.

      Karen L. King, Which Early Christianity?, in: The Oxford Handbook of Early Christian Studies, edd. S. Ashbrook Harvey/D. G. Hunter, Oxford 2008, 66–84.

      Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 21–39.

      Markus Öhler, Ethnos und Identität. Landsmannschaftliche Vereinigungen, Synagogen und christliche Gemeinden, in: Anne Lykke/Friedrich T. Schipper (Hg.), Kult und Macht. Religion und Herrschaft im syro-palästinischen Raum – Studien zu ihrer Wechselbeziehung in hellenistisch-jüdischer Zeit (WUNT II/319), Tübingen 2011, 221–248.

      Dieter Sänger, Ίουδαϊσμός – ἰουδαΐζειν – ἰουδαϊκῶς. Sprachliche und semantische Überlegungen im Blick auf Gal 1,13f. und 2,14, ZNW 108, 2017, 150–185.

      Jens Schröter, Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus, ThLZ 128, 2003, 855–866.

      Ruben Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, EC 2, 2011, 417–444.

      http://marginalia.lareviewofbooks.org/jew-judean-forum/ [7.2.2018]

       2 Die griechisch-römische Welt: Herrschaft, Gesellschaft, Religion

      Für das Verständnis des frühen Christentums sind die historischen und kulturellen Kontexte der griechisch-römischen Welt von unerlässlicher Bedeutung. Dazu gehören ganz unterschiedliche Bereiche, die hier nur knapp angesprochen werden können: die Strukturen von Herrschaft, die kulturellen und sozialen Ausprägungen