nach Norden. Sie unterquerten die modernen arabischen Häuser durch weiträumige, im Mittelalter erbaute Gewölbe und schufen den weitverzweigten „Western Wall Tunnel“, den sie politisch unsensibel im arabischen Viertel in der Via Dolorosa enden ließen.
Währenddessen schafften die Muslime an anderen Stellen Fakten. Als die den Haram asch-Scharif verwaltende religiöse Behörde, arabisch „Waqf“ genannt, seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Osten der Al-Aqsa-Moschee Ausschachtungen vornahm und schließlich das „überflüssige“ Erdreich auf Müllkippen im Kidrontal ablagerte, klagte die israelische Öffentlichkeit zu Recht über die Zerstörung von Kulturgut. Wenn auch einzelne erstaunliche Funde durch die Untersuchungen der israelischen Altertumsbehörde gerettet wurden und manche Schlussfolgerungen über die Bedeutung der zerstörten Orte noch möglich waren, sind doch die Kontexte der über Jahrhunderte „versiegelten Geschichte“ für immer verloren.
Die UNESCO-Erklärung vom 13.Oktober 2016 folgte der u.a. vom Mufti von Jerusalem unterstützten muslimischen Überzeugung, es habe in Jerusalem nie einen jüdischen Tempel gegeben und vermischte damit ungerechtfertigte religiöse Überzeugungen mit den bestehenden politischen Auseinandersetzungen um Teile der Jerusalemer Altstadt.
Leseempfehlungen
Bahat, Dan, The Illustrated Atlas of Jerusalem. Jerusalem 1990.
Baldermann, Ingo et al. (Hg.), Gerechtigkeit lernen. Religion 7/8. Leipzig 2002, 128–135.
Kollmann, Bernd, Jerusalem. Geschichte der Heiligen Stadt im Zeitalter Jesu. Darmstadt 2013.
|70|Küchler, Max, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt. Göttingen 2007.
Obst, Gabriele et al., Thema Jerusalem. Eine Stadt – drei Religionen – ein Gott? Jüdische, christliche und islamische Spuren des Glaubens an Gott. Religion 5–10 (1/2012), 14–21.
Themenheft „Der Tempel von Jerusalem“. WUB (3/1999).
Themenheft „Faszination Jerusalem“. WUB (2/2000).
Themenheft „Jerusalem“. entwurf (4/2014).
Vieweger, Dieter, Abenteuer Jerusalem. Gütersloh 32016.
Ders., Streit um das Heilige Land. Was jeder vom israelisch-arabischen Konflikt wissen sollte. Gütersloh 62017.
Ders./Förder-Hoff, Gabriele, Durch die Zeiten. Der archäologische Park unter der Erlöserkirche von Jerusalem. Potsdam 2012.
www.abenteuer-jerusalem.de
Fußnoten
Zur Lokalisation von Golgota und des Leidensweges Jesu („Via Dolorosa“) siehe http://www.durch-die-zeiten.info.
Die Bibel als Lehrbuch
Michael Landgraf
„Warum wird die Torah mit einem Feigenbaum verglichen?
Weil bei den meisten Bäumen die Früchte zu einer Zeit geerntet werden.
Vom Feigenbaum wird nach und nach gepflückt.
Ebenso ist es mit der Torah:
Man lernt ein wenig an einem Tag und mehr am nächsten,
denn man kann sie nicht lernen
in ein oder zwei Jahren.“
Bamidbar Rabba 12
Diese jüdische Weisheit weist darauf hin, dass biblische Schriften Lehrbücher sind, denen man nur durch ein lebenslanges Lernen begegnen kann.[1] Für die jüdisch-christliche Tradition offenbart sich Gott im Wort der Bibel. Daher ist es Aufgabe, Wege zu finden, sich dieser Basis des Glaubens anzunähern und diese zu verstehen.
Heute noch ist im Judentum die „Halacha“, die jüdische Auslegung der Tora für den Alltag, Grundlage im Umgang mit Fragen des Lebens. Um sich die Tora anzueignen, lernen Mädchen mit zwölf zur Bat Mizwa (in Reformgemeinden), Jungen mit dreizehn Jahren zur Bar Mizwa, die Tora auf Hebräisch vor einer Gemeinde zu lesen. Am Schabbat sucht man nach Wegen, wie die heiligen Schriften (TeNaK) als Lehrbuch ausgelegt werden.[2]
|71|Auf dem Weg zur Bibel als Lehrbuch
Jesus und Paulus wuchsen in dieser Tradition auf und lernten, die Heilige Schrift auszulegen. Lukas reflektiert dies in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52Lk 2,41–52). Dass Jesus von seinen Jüngern als „Rabbi“ angesprochen wurde, deutet darauf hin, dass seine Anhänger ihn als „Lehrer“ und Ausleger des göttlichen Willens sahen. Von Paulus wird berichtet, dass er vor seiner Bekehrung ein eifernder Schriftgelehrter war (Apg 22,3Apg 22,3 u.ö.). Wie er deuteten die ersten Christen die Ereignisse um Jesus auf Grundlage der jüdischen Überlieferung. Insofern waren diese Schriften Gegenstand des Lernens. Wie die Tora als Lehrbuch in „biblischer Zeit“ eingesetzt wurde, hat G. Büttner untersucht und festgestellt, dass es parallele Strukturen zur Textaneignung in der Antike gibt:[3] „Einschärfen und davon reden“ bedeutete: Texte wurden auswendig gelernt, memoriert, das Textverständnis diskutiert und für das Leben ausgelegt. Lesen und Schreiben lernen war damit verbunden mit einer „Teilnahme“ an der Heiligen Schrift selbst.
Allerdings war die Frage, was im Christentum „Lehrbuch“ sei, lange nicht abgeschlossen. Manche sprachen sich für eine Beseitigung der alttestamentlichen Schriften aus einem christlichen Kanon aus (z.B. Markion, um 150 n. Chr.). Und es gab es eine Vielzahl von Evangelien, Apostelbriefen und Apokalypsen. Erst mit der Kanonbildung um 380 n. Chr. lag ein verbindliches „Lehrbuch Bibel“ vor – später eingeschränkt durch M. Luther, der einige Schriften als „Apokryphen“ oder den Jakobusbrief als „stroherne Epistel“ kennzeichnete.
Lehrbuch war die Bibel bereits in der ausgehenden Antike und im Mittelalter, da sie Texte für liturgische Zwecke enthielt.[4] Um das Jahr 800 n. Chr. reformierte Karl d. Gr. das Schulwesen, indem er in den Admonitio Generalis (789 n. Chr.) Latein als Sprache der Liturgie und der Bibel festlegte. Als Ort der Lehre bestimmte er Klöster- und Domschulen. Schüler lernten durch Memorieren und dem gemeinsamen Lesen in Folianten mit Psalmen (Psalterien) und Evangelien (Evangeliare).[5] Dann hatte die Bibel als Lehrbuch ethische Bedeutung – besonders durch das Lernen des Dekalogs.[6]
Eine dritte Kategorie von Lehrtexten bezog sich auf die Passions- und Ostergeschichte (Kreuzweg), um das Zentrum biblischer Heilsgeschichte zu erfassen. Hier nun entstanden eigens Lernbibeln: „Armenbibeln“ ordneten typologisch der Passionsgeschichte auslegende Texte aus dem AT zu.[7]
In der Zeit der Vorreformation spielte die Offenbarung eine wichtige Rolle, da man fest von einer hereinbrechenden Endzeit ausging – spürbar in der |72|Illustration von M. Luthers NT (1522), in dem primär die Offenbarung illustriert wurde.
Noch in der Reformationszeit war die Bibel kein Lehrbuch für die Hände der Schüler. P. Melanchthons Enchiridion elementarum puerilium (Latein 1523; Deutsch 1529), das für die Hand der Schüler bestimmt war, enthielt ausgewählte biblische Texte (Vaterunser, Ps 66,2–8, Dekalog, Bergpredigt, Röm 12, Joh 13 und Spr). Durch das Prinzip des sola scriptura war in der Reformation angelegt, dass die ganze Bibel ein Lehrbuch für das Leben sei. Doch die Lesefähigkeit breiter Bevölkerungsschichten war noch nicht vorhanden und eine gedruckte Bibel war viel zu teuer (Jahresgehalt eines Schulmeisters). Es konnte, wie es die Homberger Kirchenordnung (1526) vorsah, zu Beginn und am Ende des Unterrichts aus der Bibel vorgelesen werden. Melanchthon empfahl 1528 die eigenständige Lektüre von Matthäus und des Timotheusbriefs. Diese Tradition griff der Pietismus auf, beispielsweise in den Franckeschen Anstalten in Halle, mit dem Ziel, dass die Bibel als persönliche Antwort Gottes an den Einzelnen zu begreifen sei.[8] Um eine Bibel als Buch des Lernens selbst in Händen halten zu können, musste die Bibelherstellung, Verbreitung und