wird.
Die Vielfalt der biblischen Texte aus weit entfernt liegenden Zeiten und Kulturkreisen verwehrt es, von der Sexualethik der Bibel zu sprechen. So finden sich sogar widersprüchliche Aussagen: Ist z.B. in vorexilischer Zeit Polygynie anerkannt, so wird um die Zeitenwende doch eine klare Präferenz der lebenslangen Einehe, ja sogar Einzigehe (über den Tod hinaus) erkennbar. Wird die Möglichkeit der Ehescheidung in der Tora rechtlich geregelt (Dtn 24,1–5Dtn 24,1–5), so spricht sich Jesus für ein radikales Scheidungsverbot aus (Mk 10,10–12Mk 10,10–12; 1 Kor 7,10 f.1 Kor 7,10f.).
Als relativ konstante Einschätzung im Sinne einer „longue durée“ wird die Ehe zwischen Mann und Frau (Gen 1,27Gen 1,27; Mk 10,6Mk 10,6; Mt 19,4f.) als dominante Lebensform und als der gute Ort sexueller Praxis (Spr 5,15–20Spr 5,15–20) benannt.[10] Abweichende Sexualpraktiken werden negativ bewertet (z.B. Ehebruch Ex 20,14Ex 20,14; |158|ferner Lev 18Lev 18; 20Lev 20). Die Bibel kennt und benennt die Gefahren, die aus der sexuellen Kraft erwachsen. Paulus mahnt deshalb, bestimmte Sexualpraktiken (porneia) zu meiden, ja davor zu fliehen wie vor einer gefährlichen Macht (1 Kor 6,181 Kor 6,18).[11] Ferner gibt es auch immer wieder Appelle zur zeitlich begrenzten oder grundsätzlichen Sexualaskese (1 Sam 21,51 Sam 21,5; Jes 54,1Jes 54,1; Mt 19,12Mt 19,12; 1 Kor 7,26f.; Offb 14,4Offb 14,4), die jedoch keineswegs über asketische Tendenzen in jüdischen und griechisch-römischen Umwelttexten hinausgehen.[12] Man darf deshalb nicht übersehen, dass es viele Texte gibt, in denen gelingende Sexualbeziehungen beschrieben werden. Am deutlichsten wird dies im so genannten atl. „Hohelied“, einer Sammlung von Liebesliedern, die in überraschender Offenheit die Begehrlichkeit des Körpers (z.B. der Brüste oder des Venushügels [Hld 4,6Hld 4,6; 7,2Hld 7,2]) und die Erotik – vermutlich sogar außerehelicher – sexueller Vereinigung besingen (Hld 1,3–7Hld 1,3–7; 3,1–5Hld 3,1–5; 5,1–7Hld 5,1–7). Besonders in 1 Kor 7 wird eine – für die patriarchal-hierarchisch geprägte Antike beachtliche – Reziprozität und Zweckfreiheit (es geht hier nicht um Nachkommenschaft!) der Sexualpraxis von Ehepartnern beschrieben (1 Kor 7,3 f.1 Kor 7,3f.).
Hermeneutik und Didaktik
War in der problemorientierten Phase des RUs das Thema Liebe-Sexualität besonders beliebt, so ist es heute aus den Lehrplänen weitgehend verbannt.[13] Dass der Sexualkundeunterricht von der Grundschule an intensiv von anderen Fächern betrieben wird, kann den RU einerseits entlasten, sollte aber gerade auch als Chance gesehen werden, den spezifisch religiösen Beitrag zum Thema in den Blick zu nehmen.
Auf die vielfältigen didaktischen Möglichkeiten, die das Thema „Gottes- und Nächstenliebe“ (einschließlich Elternliebe, Freundschaft, Diakonie)[14] bzw. Gender im weiteren Sinn birgt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Stattdessen wird das Thema der geschlechtlichen Liebe bzw. Sexualität fokussiert.
Eine erste Aufgabe besteht in der Informations- und Aufklärungsarbeit gegenüber dem verbreiteten Vorurteil der Sexualfeindlichkeit. Religion und Bibel müssen kein gebrochenes Verhältnis zur Sexualität haben, auch wenn es genügend Zeugnisse der Kirchengeschichte (bis zu den jüngsten Missbrauchsskandalen) gibt, die dies zu bestätigen scheinen. Biblische Texte, wie z.B. das atl. Hohelied, könnten hier eine einseitige Sicht korrigieren helfen, aber auch dazu inspirieren, Liebe und Sexualität wieder neu als Gaben Gottes zu erkennen.
|159|Allerdings wird ein Blick in die Texte (z.B. die Liebesmetaphern) sofort sichtbar machen, dass die kulturelle Differenz und Fremdheit zur Geltung gebracht werden müssen.[15] Selbst in Bereichen, in denen terminologische Analogien vermutet werden können, gibt es bei genauem Hinsehen Differenzen (Onan praktiziert z.B. keine Selbstbefriedigung, sondern einen coitus interruptus, vgl. Gen 38,9Gen 38,9). Auch das Thema „vorehelicher Sex“ kommt nicht vor, weil das Heiratsalter bei Mädchen bei 12 lag und ein Sexualkontakt ohnehin als Mittel der Ehebesiegelung betrachtet wurde. Eine einlinige Ableitung sexualethischer Normen aus der Bibel ist deshalb nicht möglich. Entsprechend kann auch von der polemischen Deskription homosexueller Praktiken (Lev 18,22Lev 18,22; 1 Kor 6,91 Kor 6,9) nicht die religiöse Abwertung homosexueller Partnerschaften in der Gegenwart abgeleitet werden.[16] Hier kann es also darum gehen, biblische Traditionen kontextuell zu verorten und kritisch zu reflektieren.
Dabei ist man bereits mitten in einer hermeneutischen Diskussion: Die religiöse Legitimierung einer bestimmten z.B. bürgerlichen Sexualmoral wird den Texten nicht gerecht. Die Bibel aber kategorisch in Fragen von Liebe, Sexualität und Partnerschaft als untauglich zu deklarieren, würde ihre Irrelevanz in einem zentralen Bereich des Lebens zur Folge haben. Bei einer kritischen und differenzierten Wahrnehmung und Bewertung können die biblischen Aussagen zu Liebe und Sexualität hingegen zu einem spannenden Lernfeld hermeneutischer und ethischer Kompetenz werden.[17]
So sehr die biblischen Texte zur Sexualität in die Rahmenbedingungen ihrer Zeit eingebunden sind, leuchten doch auch darin theologische Grundbekenntnisse zu Reziprozität, altruistischer Achtsamkeit und sogar Heiligkeit (1 Thess 4,3–51 Thess 4,3–5; 1 Kor 6,201 Kor 6,20) von Körper und Sexualität hervor, die auch gegenwärtig christliche Anthropologie anregen können. Eine ‚Entheiligung‘ der Sexualität birgt die Gefahr, die körperliche Vereinigung der Menschen als ‚bloßen Sex‘, Ersatzdroge oder Leistungssport zu trivialisieren oder überzubewerten. Gegenüber einer Dominanz des Sexuellen in der Medienlandschaft kann der Blick in die Bibel jedoch Jugendliche auch entlasten. Sexualität wird ernst genommen, aber doch letztlich unter dem ‚Vorletzten‘ eingeordnet. Es gibt Wertungsmaßstäbe, nach denen sich Mann- und Frausein relativieren, weil in Christus die Geschlechterdifferenz überwunden wird (vgl. Gal 3,28Gal 3,28) oder weil das Begehren und Ehelichen in Gottes Welt keine Rolle mehr spielt (Mk 12,25Mk 12,25).
|160|Leseempfehlungen
Böhler, Patrik, Siegelungen im Garten der Liebe. Sechs Bausteine für den Religionsunterricht. Reli 39 (2010) 3, 10–14.
Büchner, Frauke, Hohes Lied. In: Dressler, Bernhard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel. Leipzig 2012, 197–204.
Dabrock, Peter u.a., Unverschämt – schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah. Gütersloh 2015.
Haag, Herbert/Elliger, Katharina, Zur Liebe befreit. Sexualität in der Bibel und heute. Zürich/Düsseldorf ²1999.
Karle, Isolde, Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe. Gütersloh 2014.
Loader, William, Art. Sexualität (NT). In: WiBiLex (2014). [https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/53967/].
Neuschäfer, Reiner A., Immer und ewig!? Kopiervorlagen zum Thema Liebe, Freundschaft, Sexualität. Sekundarstufe I. Göttingen 2008.
Nord, Ilona, Art. Sexualität. In: WiReLex (2017).
[http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100290/]; Zugriff am 12.12.2017.
Schmoll, Dorothea, Es ist, was es ist! Eine Unterrichtseinheit für die Mittelstufe. Freising 2010.
Söding, Thomas, Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch. Freiburg i.Br. 2015.
Themenheft „Sex und Macht“. ZNT 30 (2012).
Themenheft „Sexualität“. rabs Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (2/2009).
Themenheft „Ist das Liebe?“ Religion 5–10 28 (2017).
Themenheft „Erotik. Hohe Lieder der Liebe“. Religion betrifft uns (3/2003).
Themenheft „Sexualität“. RelliS (3/2013).
Tiedemann, Holger, Paulus und das Begehren. Liebe, Lust und letzte Ziele. Oder: Das Gesetz in den Gliedern. Stuttgart 2002.
Wischmeyer, Oda, Liebe als Agape. Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs. Tübingen 2015.
Zimmermann, Ruben, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt. WUNT II/122. Tübingen 2001 (online abrufbar unter https://publications.ub.uni-mainz.de/opus/volltexte/2017/56462/pdf/56462.pdf;