Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


Скачать книгу

grammatische Strukturen auf, reicht aber aus, um die für das business notwendige Verständigung zu gewährleisten. Im weiteren Verlauf, nämlich dann, wenn spätere Generationen Pidgins als gängige (erste) Sprache hören, können dann diese rudimentären Systeme sogar zu voll funktionsfähigen, nicht auf bestimmte Kommunikationsbereiche beschränkten und formal nicht mehr defizienten Sprachen ausgebaut werden. Kinder von Pidginsprechern können nämlich – wiederum auf Grund ihrer angeborenen Sprachfähigkeit – eine neue Sprache kreieren. In diesem Fall spricht man von Kreolsprache.

      Die Existenz von Pidgin- und Kreolsprachen macht die Geschichte von Babel so unwahrscheinlich. Solche Sprachen entstehen nämlich gerade unter der Bedingung, dass man ein gemeinsames Projekt hat und deswegen eine gemeinsame Sprache braucht. Und ein solches Projekt hatte man ja in Babel. Der Mythos stellt so gesehen die Dinge gewissermaßen auf den Kopf: Weil die Menschen verschiedene Sprachen hatten, wurden sie in alle Welt verstreut … Im Allgemeinen ist aber die geografische Distanz nicht eine Folge, sondern im Gegenteil eine ursächliche Bedingung für Sprachverschiedenheit. Wenn man einander nicht (mehr) trifft und keine Kommunikationsabsichten hat, besteht nicht der geringste Grund, eine gemeinsame Sprache zu erhalten oder zu entwickeln. Wenn man aber miteinander reden will oder muss, dann wird man dafür auch ein Mittel finden oder eben schaffen.

      In den vorangegangenen Ausführungen wurde sehr oft das Wort Sprache benutzt, damit aber zum Teil Verschiedenes gemeint. Einerseits war von der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Spracherlernung und -entwicklung die Rede (Adam), dann von den verschiedenen Einzelsprachen, die die Geschichte von Babel illustriert. Schließlich war auch von Kommunikation die Rede, die aus dem Bedürfnis und der Notwendigkeit entsteht, einander etwas mitzuteilen. Denn es ist ja nicht so interessant, dass der Mensch eine oder mehrere Sprachen ›besitzt‹, sie sprechen kann, sondern dass er auch tatsächlich spricht. Wenn er dies tut, kommt wieder Sprache heraus, diesmal im Sinne von Gesprächen und Texten.

      Ferdinand de Saussure langage, langue, parole

      Für die Unterscheidungen, um die es hier geht, hat der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857 – 1913) terminologische Unterscheidungen getroffen, die allgemeinen Eingang in die Sprachwissenschaft gefunden haben. Dabei griff er auf die französische Sprache zurück, die selbst schon mehrere Ausdrücke für ›Sprache‹ hat. |4◄ ►5| Um die menschliche Sprachfähigkeit zu bezeichnen, hat er den Ausdruck langage gewählt, die verschiedenen Einzelsprachen heißen langues. Die Verwendung solcher Einzelsprachen schließlich, den konkreten Gebrauch einer langue in Äußerungen, bezeichnet er als parole. Wir sprechen im Weiteren von Äußerungen als Parole-Akten.

      Einzelsprachen

      Die langage ist allen Menschen gemeinsam. Nur lässt sie sich als solche gar nicht konkret verwenden. Wer immer seine Sprachfähigkeit praktisch einsetzen will, muss dabei auf eine bestimmte Einzelsprache (langue) zurückgreifen. Einzelsprachen sind z.B. Deutsch, Französisch, Afrikaans, Bhili, Chinesisch, Duru, Kurdisch, Lateinisch, Maledivisch, Nanai, Persisch, Quechua, Rätoromanisch, Suyá, Thai, Usbekisch, Yupik, Zulu und so weiter und so fort. Eine naheliegende Frage ist nun, wie weit dieses »und so weiter und so fort« geht: Wie viele Sprachen gibt es in der Welt?

      |5◄|

      |►5|

      2 Wie viele Sprachen gibt es?

      Unerforschte und vom Aussterben bedrohte Sprachen

      Erstaunlicherweise gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort: Während man früher oft mit Angaben um 3.000 – 4.000 operierte, kann man in neueren Bestandsaufnahmen Zahlen zwischen 6.000 und 15.000 finden. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Zahlen? Es lassen sich dafür mindestens zwei Gründe anführen:

      1. Von den vielen Sprachen dieser Welt (es handelt sich auf jeden Fall um mehrere Tausend) sind längst nicht alle gleich gut beschrieben, und es sind auch nicht alle Regionen dieser Welt gleich gut auf die in ihnen benutzten Sprachen hin erforscht. Manche Regionen bilden daher einfach noch relativ weiße Flecken auf der Landkarte, und es ist nicht (genau) bekannt, wie viele und welche Sprachen es dort gibt.

      Dass es noch weiße Flecken auf der Landkarte gibt, wäre übrigens nicht weiter schlimm, wenn die Sprachwissenschaft noch alle Zeit der Welt hätte, sämtliche Sprachen nach und nach zu erforschen. In letzter Zeit wird man sich jedoch zunehmend bewusst, dass diese Möglichkeit vielleicht nicht gegeben ist – viele Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Im 21. Jahrhundert wird wahrscheinlich mehr als die Hälfte der derzeit noch gesprochenen Sprachen verschwinden. Das hängt damit zusammen, dass nicht einmal ein Fünftel aller Sprachen von mindestens 100.000 Menschen benutzt wird; bei fast einem Drittel hat man |5◄ ►6| weniger als 1.000 Sprecher gezählt. – Es gibt in der Zwischenzeit zwar auch eine stärker werdende Gegenbewegung und diverse Gesellschaften zur Rettung bedrohter Sprachen.2 Dazu bedarf es allerdings eines ausgeprägten Bewahrungswillens der betroffenen Sprecher, der z.B. bei den Friesen und Sorben und überhaupt im europäischen Raum durchaus gegeben ist, kaum aber für die vielen (nicht verschrifteten) Kleinstsprachen in Afrika, Asien und Australien.

      Grenzen zwischen Einzelsprachen

      2. Der zweite Grund ist fundamentalerer Natur und lässt sich (im Gegensatz zum ersten) nicht einmal prinzipiell aus der Welt schaffen – er führt uns direkt auf grundlegende Probleme der Sprachwissenschaft. Diese lassen sich vorerst in folgender Feststellung fassen: Es ist gar nicht so einfach anzugeben, was genau eine Einzelsprache ist und wo ihre Grenzen zu anderen Einzelsprachen sind. – Warum ist dies so?

      Wir hatten oben festgestellt, dass man langage nicht als solche anwenden kann, sondern immer eine Einzelsprache benutzen muss. Tatsächlich sind jedoch auch diese Einzelsprachen keine konkreten Objekte, die unmittelbar als solche gegeben wären und die man direkt beobachten könnte. Das einzige unmittelbar beobachtbare – sicht- bzw. hörbare – sprachliche Phänomen sind vielmehr die konkreten Einzelfälle des Sprachgebrauchs, die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, die Sprecher produzieren, also Parole-Akte.

      Normalerweise nimmt man nun natürlich an, dass Parole-Akte produziert werden, indem Menschen auf ihre Kenntnis einer bestimmten Einzelsprache zurückgreifen. Mitunter stellt sich die Frage, um welche Einzelsprache es sich bei bestimmten Parole-Akten handelt. Unproblematisch scheint dies zu sein, wenn man die Sprache kennt, schwieriger dagegen, wenn man sie eben nicht kennt. Denn wer eine Äußerung produziert, sagt ja im Allgemeinen nicht dazu, welche Einzelsprache er gerade benutzt. Das Problem der Identifizierung von Einzelsprachen stellt sich jedoch in Wirklichkeit nicht nur für uns unbekannte Sprachen, sondern kann auch bei Sprachen auftreten, die uns weitgehend geläufig sind. Dies sei ausgehend von einem – authentischen – Parole-Akt demonstriert (Textbeispiel 1). Es handelt sich um den Ausschnitt eines Gesprächs zwischen Frau A und Frau B, das 1994 geführt wurde.

      Sprachmischung Mischsprachen

      Welche Sprache spricht Frau B? Sie selbst scheint zu meinen, es handle sich um Deutsch (Daitsch), und es ist ja auch mindestens eine Art Deutsch, jedenfalls ähnelt vieles dem Deutschen; anderes lässt dagegen eher an Englisch denken, das in dem Gespräch ja auch erwähnt wird. Möglich wären nun (mindestens) folgende Lösungen: |6◄ ►7|

      Textbeispiel 1: was host-n gsaat, ’s kann-s net versteh, see

A:No erzählt mol, was ihr hait alles gschafft hett.
B:No erscht hun ich me-n appointment gemacht bei-m doctor un sain ‘nuf un hun mei flue shot geholt, hait morjent, des war s erschte Ding. No, norde sein ich in store gange un hun gschopt, bisje esse, bisje candy for Hallowe’en. No sain ich haam komme un hun bisje Midach gesse, un nore hun ich platzkorn geplatzt. Un des war alles, so weit.
A:Seid ihr wohl zu Fuß gange?
B:Naa, ich hun die car gfahr, naa, ich fahr car, des’ ganz upstairs, nuf in town, des’ zu weit vor laawe, do mus ich fahre.
A:Wie lang bleibt es jetz dou?
B:Bis finewe, bissai mame kommt von hospital’s, die schafft in hospital’s, see, so do pickt sie ihn nore uf.
A: