Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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die Verständigung ermöglichen. Für ein solches System prägte Saussure den Fachterminus langue. Die langue ist also das (zu rekonstruierende) einzelsprachliche System, das der Produktion von parole zugrunde liegt. Es stellt so etwas wie die Spielregeln dar, nach denen Äußerungen produziert werden können, Spielregeln, die natürlicherweise nur in den Köpfen der Sprechenden existieren. Aus diesem Grund bezeichnet Saussure die langue als eine psychische Größe, während die parole ein konkretes physisches (akustisches oder optisches) Phänomen darstellt.

      Beziehungen zwischen sprachlichen Elementen

      Um das System der langue zu rekonstruieren, ist es notwendig, die Beziehungen zu untersuchen, die seine einzelnen Elemente – z.B. die einzelnen Laute, Wörter oder grammatischen Regeln – zueinander haben (und nicht die Beziehungen, die diese Elemente zu ihnen entsprechenden Größen in anderen Systemen, anderen Dialekten, Sprachen oder Sprachstadien haben, wie es die Indogermanistik untersucht).

      Man muss also z.B. wissen, ob es in einer Einzelsprache Kurzvokale und Langvokale gibt, d.h. ob diese Unterscheidung für das Funktionieren der Kommunikation wichtig ist oder nicht. Man muss aber nicht wissen, ob es in einem früheren Sprachstadium auch Kurz- und Langvokale gab oder sich z.B. die Langvokale aus früheren Diphthongen (z.B. üe, ie, uo etc.) entwickelt haben. – Im Neuhochdeutschen ist die Unterscheidung von Kurz- und Langvokalen übrigens wichtig, denn man muss z.B. erkennen können, ob es las (Imperfekt von lesen) oder lass (Imperativ von lassen) heißen soll. In anderen Sprachen ist diese Unterscheidung dagegen nicht wichtig, d.h. es ist ziemlich egal, wie lang man den Vokal dehnt, der Ausdruck bedeutet immer dasselbe.

      Strukturalismus

      Die langue ist aufzufassen als eine Summe von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen bestehen; diese machen die Struktur |13◄ ►14| des Sprachsystems aus. Um deren Rekonstruktion geht es bei der Beschreibung der langue. Daher hat die von de Saussure begründete sprachwissenschaftliche Forschung den Namen Strukturalismus.

      Synchronie und Diachronie

      Die langue wird von Saussure als stabiles und homogenes System angesehen, d.h. er sieht dabei von Sprachwandel, dialektaler Variation usw. ab. Der Grund ist folgender: Wenn es darum geht, die Struktur eines Systems zu rekonstruieren, kann man immer nur ein System zur Zeit betrachten, die Struktur gilt nur für dieses eine System (im Nachbardialekt kann es z.B. statt mancher Langvokale Diphthonge geben). Praktisch bedeutet das: Man muss bei einer Systembeschreibung davon abstrahieren, dass die Grenzen zwischen den Sprachen und Varietäten fließend sind und sich die Sprache in Wirklichkeit in ständigem Wandel befindet. Die Entwicklung einer Sprache im Laufe der Zeit bezeichnet man als Diachronie (zu griechisch dia- ›durch‹ und chronos ›Zeit‹). Bei der Betrachtung der langue hält man gewissermaßen den Zeit-Film an, macht einen synchronen Schnitt, eine Momentaufnahme (Synchronie; griechisch syn- ›zusammen‹), und beschreibt dieses Bild. Selbstverständlich sind beide Fragestellungen auch nach Ansicht Saussures völlig legitim; nur war zu seiner Zeit die synchronische noch nicht üblich, und sie sollte von der diachronischen auch klar getrennt werden.

      Standardsprache

      Dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, von Sprachwandel und Sprachvariation zu abstrahieren, hat zweifellos damit zu tun, dass es auch in der sprachlichen Wirklichkeit schon etwas gibt, was zumindest als stabil und homogen gemeint ist, nämlich die Standardsprache. Diese nennt man auch oft Hochsprache, und es handelt sich um die sprachliche Varietät, die in ›verbindlichen‹ Wörterbüchern und Grammatiken normativ festgeschrieben (»kodifiziert«) ist. Die Normierung einer Sprache, die Entwicklung einer Standardvarietät – übrigens im Allgemeinen ein relativ spätes Ereignis in der Geschichte einer Sprache – läuft im Grunde darauf hinaus, Varianten (z.B. dialektale oder umgangssprachliche) als inkorrekt auszuschließen. Wie Textbeispiel 3 zeigt, geht dies meist nicht ohne Konflikte ab. Auch Neuerungen (z.B. Übernahmen aus anderen Sprachen) versucht man vielfach abzuwehren – diese werden dann meist als Sprachverfall gebrandmarkt. Dennoch darf man Standardsprache und langue nicht miteinander verwechseln: Langue bedeutet nur: abstraktes System, das der parole zugrunde liegt. Bei diesem System kann es sich um das der Standardsprache, aber auch um das von Dialekten oder sonstigen Varietäten handeln.

      Sprache und andere Zeichensysteme

      Linguistik als Beschreibung der langue (auch bezeichnet als Systemlinguistik), also der auf Saussure zurückgehende Ansatz, ist diejenige Forschungsrichtung, die den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrscht hat. Saussure betrachtet die Sprache allerdings vor dem Hintergrund anderer Zeichensysteme: |14◄ ►15|

      Textbeispiel 3: Goethe in Leipzig

      […] so hatte ich auch vom Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie man denn, wenn man den Ort verändert und in neue Verhältnisse tritt, immer Einstand geben muß. Das erste, was die Frauen an mir tadelten, bezog sich auf die Kleidung; denn ich war vom Hause freilich etwas wunderlich equipiert auf die Akademie gelangt. […]

      Als aber Herr von Masuren, der so beliebte poetische Dorfjunker, einst auf dem Theater in einer ähnlichen Kleidung auftrat, und mehr wegen seiner äußeren als inneren Abgeschmacktheit herzlich belacht wurde, faßte ich Mut und wagte, meine sämtliche Garderobe gegen eine neumodische, dem Ort gemäße auf einmal umzutauschen, wodurch sie aber freilich sehr zusammenschrumpfte.

      Nach dieser überstandenen Prüfung sollte abermals eine neue eintreten, welche mir weit unangenehmer auffiel, weil sie eine Sache betraf, die man nicht so leicht ablegt und umtauscht.

      Ich war nämlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel jenes Idioms nennen kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren Sprechen vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen gefielen, mit Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen Mitbürgern jedesmal einen strengen Verweis zuzog. Der Oberdeutsche nämlich, und vielleicht vorzüglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt (denn große Flüsse haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes), drückt sich viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer inneren menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher Redensarten. In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man auf den Zweck des Ausdruckes sieht, immer gehörig; nur mag freilich manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr sich anstößig erweist.

      Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger lebhafter Mensch unter diesem beständigen Hofmeistern ausgestanden habe, wird derjenige leicht ermessen, der bedenkt, daß nun mit der Aussprache, in deren Veränderung man sich endlich wohl ergäbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl, vaterländischer Charakter sollten aufgeopfert werden. Und diese unerträgliche Forderung wurde von gebildeten Männern und Frauen gemacht, deren Überzeugung ich mir nicht zueignen konnte, deren Unrecht ich zu empfinden glaubte, ohne mir es deutlich machen zu können. Mir sollten die Anspielungen auf biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger Chronikenausdrücke. Ich sollte vergessen, daß ich den Geiler von Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der Sprüchwörter entbehren, die doch, statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel gleich auf den Kopf treffen; alles dies, das ich mir mit jugendlicher Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen, ich fühlte mich in meinem Innersten paralysiert und wußte kaum mehr, wie ich mich über die gemeinsten Dinge zu äußern hatte. Daneben hörte ich, man solle reden wie man schreibt, und schreiben wie man spricht; da mir Reden und Schreiben ein für allemal zweierlei Dinge schienen, von denen jedes wohl seine eignen Rechte behaupten möchte.

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      Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern der Schrift, dem Taubstummenalphabet, symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. usw. vergleichbar.