Kirsten Adamzik

Sprache: Wege zum Verstehen


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dafür, dass man wirklich sagen kann, Sprachen seien Zeichensysteme, mit denen man einfach alles ausdrücken kann – schlimmstenfalls muss man das System mehr oder weniger stark abändern bzw. ergänzen, um zu neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu kommen.

      Hintergründiger Sinn

      – Schließlich stellt die Beschränkung auf die Frage nach dem Funktionieren der einzelsprachlichen Systeme auch deswegen eine Verengung|22◄ ►23| dar, weil es sehr oft nicht ausreicht, eine Äußerung wörtlich zu verstehen, um zu begreifen, was der Sprecher damit in der konkreten Situation eigentlich gemeint hat. Wenn jemand sagt ich bin müde, kann das einfach heißen, dass er im Moment das Bedürfnis hat zu schlafen; er könnte aber auch ausdrücken wollen, dass er sein Leben sehr anstrengend findet, ständig erschöpft ist und keine Energie mehr hat; der Hörer könnte auch zu der Interpretation kommen, dass der Sprecher einfach nicht mehr mit ihm reden will, weil er auf ihn böse ist, usw. Solche Interpretationen ergeben sich nicht schlüssig aus dem, was eine Äußerung dem sprachlichen System entsprechend bedeutet. Denn hier geht es um die individuelle Interpretation von Parole-Akten, für die man auf mehr als sein Sprachwissen, u.a. auf den Kontext und sein Vorwissen über den Gesprächspartner, zurückgreift.

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      5 Was braucht man, um eine sprachliche Äußerung zu verstehen?

      Führen wir uns nun vor Augen, was alles außer der Kenntnis einer Sprache noch eine Rolle spielen kann, wenn man mit einem Parole-Akt konfrontiert ist. Dazu greifen wir auf einen sehr kurzen Text zurück:

      Stilblütensammlung: aus dem Kontext gerissene (unfreiwillige) Komik

      An diesem Text fällt zunächst die spezielle grafische Gestaltung ins Auge, und jeder wird wohl unmittelbar erkennen, dass es sich um eine aus einer Zeitung ausgerissene Überschrift handelt. Zumindest mit der gegenwärtigen deutschen Presselandschaft Vertraute kennen auch die in der Quellenangabe genannte Zeitung Bild am Sonntag. Nun ist diese Schlagzeile hier aus ihrem originären Kontext herausgelöst, ihr folgt auch kein Haupttext. Um zu verstehen, welchem Zweck dies dient, müssen wir wissen, in welchem situativen Zusammenhang die Schlagzeile sich jetzt befindet. Abgedruckt war der Text in der hier vorgestellten Form in einem anderen Presseorgan, dem Spiegel, und zwar unter der Rubrik Hohlspiegel. Dort sind regelmäßig kurze Texte (meist nur Auszüge)|23◄ ►24| abgedruckt, die eine unfreiwillige Komik aufweisen. Durch die Platzierung in der »Stilblüten-Rubrik« Hohlspiegel ist also ein kontextueller Hinweis gegeben, dass es an diesem Zitat etwas zu Lachen gibt. Dieser Lach-Effekt stellt sich für die meisten wohl ohne jedes weitere Nachdenken ein; spontan aktiviert man eine Reihe von Wissensvoraussetzungen, die wir uns nun im Einzelnen bewusst machen wollen – vor allem für die, denen Vorkenntnisse zum Verständnis fehlen.

      Lampe und Leuchte

      Sie will keine Leuchte sein – dies ist schon für sich komisch, weil die Redewendung (k)eine Leuchte sein bedeutet: ›(nicht) klug sein‹. Da klug zu sein allgemein als ein positiver Wert gilt, fällt es schwer sich jemanden zu denken, der dies ausdrücklich nicht sein will. Das Schlüsselwort zum Verständnis ist der Ausdruck Ikea, eigentlich kein Bestandteil der deutschen Sprache, sondern der Eigenname eines Möbelhauses. Wer Ikea – sei es aus direkter Erfahrung als Käufer, sei es aus dem Ikea-Katalog, sei es aus der Werbung – kennt, weiß auch, dass dort viele Produkte mit Eigennamen belegt werden, so gibt es z.B. die Bücherregale Billy, Niklas und Ivar. Das Möbelhaus bietet auch Beleuchtungskörper an, gemeinhin Lampen genannt. Leuchte ist ein in der Elektro- und Möbelindustrie gebräuchliches Synonym dafür. Die Verwendung dieses speziellen Ausdrucks führt zu dem komischen Effekt, den Sie möchte keine Lampe sein natürlich nicht erbracht hätte, weil hier die wörtliche Bedeutung nicht mit einer Redewendung in Konflikt treten kann.

      Das Vorwissen

      Auf Grund dieses Vorwissens wird der Leser wahrscheinlich vermuten, dass Ikea eine Lampe, benannt nach einer weiblichen Person namens Feldbusch, auf den Markt bringen wollte (oder dies schon getan hat). Feldbusch passt allerdings nicht gerade in die Reihe der (meist nordisch klingenden) Namen von Ikea-Produkten. Wer ist mit Feldbusch gemeint? Es handelt sich um das Fernseh-Sternchen Verona Feldbusch, eine Moderatorin von Sendungen, deren intellektuelles Niveau allgemein als besonders niedrig gilt. Der Name kann in diesem Sinne für eine kurze Zeitspanne geradezu als Inbegriff der Dümmlichkeit fungieren! Und dass die Moderatorin auch so dumm sein will, wie sie ist, ist natürlich schon zum Lachen.

      Gibt es aber bei Ikea wirklich eine Lampe mit dem Namen Verona /(Feldbusch), und hat die Moderatorin wirklich deswegen gegen Ikea geklagt? Falls es so sein sollte, handelt es sich dann wirklich um eine unfreiwillige Stilblüte oder aber um eine bereits von Bild bewusst komisch inszenierte Meldung? Dass nicht bei allen Zitaten aus dem Hohlspiegel die Komik unfreiwillig ist, lässt ein anderes Beispiel aus derselben Nummer erwarten: »Tausche schwerverständl. Buch über Empfängnisverhütung gegen gebrauchten Kinderwagen« (Aus der »Ostfriesen Zeitung«). Bei einem dritten Fall aus der Nummer würden wir mit beabsichtigter Komik dagegen sicher nicht rechnen – hauptsächlich deswegen, weil es aus dem Schreiben einer Sparkasse stammt |24◄ ►25| (da macht man nicht solche Witze): »Die übrigen Veränderungen bleiben unverändert.«

      Der Feldbusch-Text allein und auch die diversen beigezogenen Hintergrundkenntnisse reichen nicht aus, um die Frage zu beantworten. Dafür muss man auf den Originaltext zurückgreifen, der zeigt, dass die gewählte Schlagzeile irreführend ist. Ikea hat keine Lampe Verona genannt, es geht um ein Produkt namens Skyar, für das Ikea in Schweizer Zeitungen mit dem Satz warb: »Das Verona-Feldbusch-Angebot von morgen: Die attraktive Leuchte für Fr. 69, – « – und dies ohne Feldbusch gefragt zu haben. Feldbusch hat also geklagt, weil sie als Werbeträgerin eingesetzt wurde, ohne dafür Geld zu bekommen. Verona Feldbusch, die übrigens auch als – bezahlte – Werbeträgerin auftritt, handelte also tatsächlich eher schlau, indem sie finanzielle Ansprüche gegenüber Ikea geltend machte.

      Wissensbereiche

      Wissensbestände ändern sich während der Kommunikation

      Wenn hier eine offenere Darstellung wie in Abbildung 4 bevorzugt wird, so vor allem deswegen, weil sich die Wissensbestände nicht wie Dateien denken lassen, auf die der Mensch Zugriff hätte, seien solche Dateien auch als sehr umfangreich und in sich komplex strukturiert konzipiert. Die Wissensbestände eines Individuums sollten nicht als fixe Größe modelliert werden, die mindestens für eine bestimmte Kommunikationssituation Gültigkeit hätte. Es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung zwischen dem Kommunikationsprozess und den relevanten Wissenselementen (dies deuten die Doppellinien an). Wer z.B. mit einem Ausdruck konfrontiert wird, der eigentlich nicht zu seinem Wortschatz gehört, kann häufig ›aus dem Kontext‹, d.h. durch die Aktivierung anderer Elemente seines Wissens, diesem Ausdruck eine Bedeutung zuschreiben und ihn damit ad hoc in seinen Wissensbestand integrieren. Man könnte auch sagen, dass dieses Wissenselement latent durchaus schon vorhanden war oder dass es als potenziell bestehendes Wissen existiert.

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