Andreas Kotte

Theatergeschichte


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der Mitte der Orchestra befand sich zudem der Ausstieg für die aus der Unterwelt kommenden Geister oder die dem Erdreich zugehörigen Gottheiten, die Charonstiege, benannt nach dem Fährmann des Totenreiches.

      1.6.3 Hauptunterschiede im Theaterbau

      In der Gegenüberstellung des Theaters von Epidauros und des Marcellustheaters in Rom lassen sich modellhaft einige Unterschiede des griechischen und römischen Theaterbaus verdeutlichen. Der zehn Kilometer westlich von Epidauros gelegene heilige Bezirk entwickelte sich vom 16. zum 4. vorchristlichen Jahrhundert zu einem Kulturzentrum von panhellenischer Bedeutung, aber nicht als Orakelstätte, wie etwa Delphi, sondern als Kurort. Die heutigen Bauten stammen aus dem 4. Jahrhundert, darunter das besterhaltene griechische Theater überhaupt, das auf 55 Sitzreihen 12.000 Besuchern Platz bietet. Seit dem 5. Jahrhundert wurden in Epidauros die „Großen Asklepien“ gefeiert. Alle vier Jahre führte eine Prozession Gläubige von der Stadt Epidauros ins Heiligtum. Sie bekränzten sich mit Lorbeer zu Ehren des Apollon und mit Ölbaumzweigen zu Ehren des Asklepios, seines Sohnes. Die Feste brachten immer umfangreichere Athleten- und Reiterspiele mit sich, und seit dem 4. Jahrhundert, wie aus Platons Ion bekannt, auch Musik- und Sängerwettkämpfe. Die Zahl der Zuschauer wuchs und wuchs, und deshalb brauchte man dringend dieses Paraskenientheater als universale Stätte für Zusammenkünfte und Veranstaltungen im großen Rahmen. [<< 75]

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      Abb 8 links: griechisches Paraskenientheater Epidauros, Ende 4. Jh. v.Chr.; rechts: römisches Theater, Marcellustheater, Ende 1. Jh. v.Chr. (Quelle)

      Das Marcellustheater in Rom wurde von Augustus im Gedenken an seinen 23 v. Chr. verstorbenen Neffen und designierten Nachfolger Marcellus erbaut und 13 oder 11 v. Chr. fertiggestellt. Mitten in der Stadt Rom konnte man keine topografischen Vorteile wie etwa eine Hanglage (Aspendos) nutzen. Der Hochbau von etwa 33 Metern steht frei und fasste vor den zahlreichen Umbauten über 10.000 Zuschauende. Die Sitzreihen sind nun nicht mehr über die Parodoi, sondern über zahlreiche Eingänge in den Außenmauern über Treppen zu erreichen. Die beiden von der Fassungskraft her ähnlichen Anlagen weisen wesentliche Unterschiede im Theaterbau auf, die auch an anderen – aber nie an allen – Bauwerken der griechischen beziehungsweise römischen Antike nachzuweisen sind.

griechischrömisch
Zuschauerraumgrößer als ein Halbkreismeist genau ein Halbkreis
OrchestraVollkreisHalbkreis
Zugänge zur Orchestraoffenüberwölbt
Abschlussmauern des Zuschauerraumsschräggerade
Bühnenhausvollständig vom Zuschauerraum getrenntmit gleich hohem Zuschauerraum verbunden
Vorderwand der Bühne liegt zur Orchestraim äußeren Teil, in der Tangente oder in einer Sekantein der Mitte, im Durchmesser
nutzbare Bühnemehrere Ebeneneine Ebene
Bühnenwandoft zweistöckig, unten (Halb-) Säulen, Türen und (spät) Pinakeszwei- bis dreistöckige Fassade mit Säulen und Nischen

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      Das erste Kapitel legt nahe, dass es nicht einen Ursprung, sondern viele Ursprünge von Theater gab und dass Theater wohl kaum in Griechenland entstanden ist. Das griechische Theater liefert, durch die Forschung reich belegt, einerseits ein hervorragendes Modell für die Institutionalisierung von Theaterformen und weist andererseits für den Bereich der Dramatik mit den überkommenen Werken der Tragödie und Alten Komödie Glanzleistungen auf, die bis heute nachwirken. Sie widerspiegeln Wirkungszusammenhänge der antiken Polis in Alltag, Fest und Kult. So konnte Theater zum Forum öffentlicher Meinungsbildung werden, ohne dass man auf die improvisierten Spielformen mit ihrem vorherrschenden Unterhaltungsaspekt hätte verzichten müssen. Während der Römischen Republik sind mittels Theater statt diskursiver eher repräsentative Anforderungen zu erfüllen, die ganz anderer Theaterformen bedürfen als einer literarisch geprägten Komödie oder Tragödie. Deshalb verlieren diese spätestens in der römischen Kaiserzeit ihre Bedeutung, anders als Mimus und Pantomimus. Theater, in frühen Gesellschaften multifunktionales Allgemeingut, wird im antiken philosophischen und auch historiografischen Diskurs unter dem Wahrheitsaspekt – eine künstlerische [<< 77] kann nur eine niedere Wahrheit sein – angegriffen und auf seinen Nutzwert reduziert: Schauspielkunst kann Rhetoren bei der Formung der öffentlichen Meinung helfen. Im höchsten Grade unnütz, ja gefährlich, erscheint es hingegen den frühchristlichen Kirchenlehrern. Auch sie empfinden den Umgang mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, die in der Aufführung Wirklichkeitscharakter erlangen, letztlich als Einschränkung ihres Wahrheitsmonopols.