Andreas Kotte

Theatergeschichte


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besitzt, nicht aber in denen der Angehörigen der Elite, wird sie zum Hilfsmittel des Lebenstheaters der Rhetorik erkoren. Theaterspiel erfreut sich in der aristotelischen Poetik – im Vergleich etwa zur Lobpreisung der Tragödientexte – nur geringer Wertschätzung. Demgegenüber fällt auf, welche enorme Bedeutung Aristoteles in seiner Politik und besonders in der letzten Fassung seiner Rhetorik dem Theater zumisst, sofern das Problem der Lenkung und Leitung der öffentlichen Meinung in den Fokus rückt. Im Vergleich zu Platon erfolgt dabei eine nahezu völlige Umkehrung: Theater wird jetzt zum bewusst eingesetzten sozialen Rollenspiel. Aristoteles schreibt im dritten Buch der Rhetorik, es genüge nicht, „dass man weiß, was zu sagen ist, sondern man muss es auch in der rechten Art sagen, und dies trägt viel dazu bei, dass die Rede einen bestimmten Eindruck erweckt“.83 Sachverhalte überzeugen erst im mündlichen Vortrag. Die Menge ist unfähig, die Wahrheit als solche zu erfassen, lässt sich von Meinungen und Leidenschaften leiten und zieht eine scheinbar wahre Lüge der unwahrscheinlichen Wahrheit vor. Deshalb müsse man ihr selbst dann, wenn man ihr die Wahrheit verkünden wolle, diese in die Form des Scheins, des Trugs und der Illusion kleiden. Dazu eignet sich – neben Sophistik und Demagogie – die Schauspielkunst. Die „Machart“ als die eigentliche „Kunst“ muss bewusst verborgen werden und als „natürlich“ erscheinen.84 Die richtige Handhabung dieser Mittel birgt beträchtliche Möglichkeiten; so ist es zum Beispiel realisierbar, „Feinde und Freunde, wenn sie es sind, als solche darzustellen; wenn sie es aber nicht sind, sie dazu zu machen und die, [<< 61] die behaupten, das eine oder andere zu sein, zu widerlegen und die, die zweifeln, ob aus Zorn oder aus Feindschaft etwas geschehen ist, zu der Meinung, zu der man es sich vornimmt, zu bringen“.85 Das heißt, man muss sich nicht an den Verstand, sondern an die Affekte wenden, man muss die Leidenschaften der Menge manipulieren. Theaterspiel ist nicht um seiner selbst willen zu fördern, sondern als Vehikel für eine wirksame Rhetorik.

      1.5.3 Die christliche Theaterfeindschaft

      Die Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft sollte nach dem Willen der Kirchenväter durch eine besonders enthaltsame Lebensweise ausgedrückt werden, die der römischen Verschwendungssucht eine Absage erteilt. In seiner traditionsbildenden Schrift De spectaculis verwirft Tertullian daher sämtliche Spiele, besonders aber jeg­lichen Besuch von Spielen durch Christen. In den Abschnitten 1 bis 13 wird vor allem der heidnische Charakter von Spielen herausgestellt, weshalb sie zum Götzendienst (Venus, Bacchus) verführen würden. In den Kapiteln 14 bis 28 betont er den körperliche Leidenschaften erregenden und unsittlichen Charakter der Spiele, dem sich eine [<< 62] kämpfende Kirche entgegenzustellen habe. Die beiden abschließenden Abschnitte verweisen im Sinne der Welttheatermetapher auf das Schauspiel der Wiederkunft des Herrn als das größte Schauspiel aller Zeiten, das andere überflüssig mache. Die im philosophischen Wahrheitsdiskurs vorgebrachten Gründe begleiten den Angriff Tertullians, der gesellschaftliche Erneuerung befördern soll: Heidnisch sind die Darstellungen nicht nur im theologischen Sinne, sondern auch, weil sie unwahre Abbilder mit den Eigenschaften Täuschung (Maske, Kothurn), Fälschung (Fiktion) und Verstellung (Stimme, Geschlecht, Alter, Kleidung) produzieren.

      Die tiefe Bußgesinnung unter den monotheistischen Christen hebt sie aus der Masse jener Menschen heraus, die mehreren Göttern huldigen. Man unterwirft sich selbst dem ethischen Impetus, zunächst das eigene Leben zu ändern, und sei es auch auf einem peripheren Feld. Bei der enormen Nähe zum Beispiel zu den Glaubensinhalten und der Kultausübung für den Gott Mithras muss insbesondere der christliche Moralkodex eine Differenz herstellen, die im Widerstand gegen den als ein locker vereinigendes Band initiierten Kaiserkult gipfelt. In den daraus erwachsenden Christenverfolgungen (bis 311) bilden oft Folter- und Hinrichtungsszenen, an Christen begangene Gräuel, den Höhepunkt von Spielen, was deren Ablehnung umso einsichtiger macht. Bis ins 4. Jahrhundert hinein müssen sich die Kirchenväter jedoch auf Appelle beschränken, man kann in praxi kaum Einfluss auf das Spielgeschehen nehmen, bevor sich nicht das Christentum als Staatsreligion durchgesetzt hat.

      Bei aller allgemeinen Ablehnung der Spiele gilt dem Kampf gegen den Mimus die oberste Priorität, da er Heidnisches und Körperliches unentwirrbar verflicht, weil er kaum über Texte fassbar ist und weil sich das Lachen stärker als jede andere Wirkung von Spielen rationalistisch-moralischer Argumentation entzieht. Zwischen Tertullian und Johannes Chrysostomus, Patriarch von Konstantinopel, erringt der Mimus die Vorherrschaft im römischen Theaterwesen. Chrysostomus gehört zu jenen gelehrten Kirchenoberhäuptern, die besonders häufig, intensiv und über einen langen Zeitraum gegen Theater predigen und auf diese Weise viele wertvolle Informationen überliefern. Wenn die Darstellungen auf den griechischen Bühnen einigen Philosophen ein Dorn im Auge waren, weil sie ihre Sozialutopien unterliefen, einigen Geschichtsschreibern, weil sie historische Vorgänge variierend interpretierten, dann ist der römische Mimus für Chrysostomus deshalb so abgrundtief verwerflich, weil er die Aufmerksamkeit der Gläubigen von der Kirche abzieht. Auch hier liegt wieder ein Konkurrenzverhältnis dem stets aufs Neue ausgesprochenen Bann zugrunde:

      Chrysostomus scheut keine Mühe, in wachsender Erbitterung stets neue Bezeichnungen für den Mimus zu finden: