besitzt, nicht aber in denen der Angehörigen der Elite, wird sie zum Hilfsmittel des Lebenstheaters der Rhetorik erkoren. Theaterspiel erfreut sich in der aristotelischen Poetik – im Vergleich etwa zur Lobpreisung der Tragödientexte – nur geringer Wertschätzung. Demgegenüber fällt auf, welche enorme Bedeutung Aristoteles in seiner Politik und besonders in der letzten Fassung seiner Rhetorik dem Theater zumisst, sofern das Problem der Lenkung und Leitung der öffentlichen Meinung in den Fokus rückt. Im Vergleich zu Platon erfolgt dabei eine nahezu völlige Umkehrung: Theater wird jetzt zum bewusst eingesetzten sozialen Rollenspiel. Aristoteles schreibt im dritten Buch der Rhetorik, es genüge nicht, „dass man weiß, was zu sagen ist, sondern man muss es auch in der rechten Art sagen, und dies trägt viel dazu bei, dass die Rede einen bestimmten Eindruck erweckt“.83 Sachverhalte überzeugen erst im mündlichen Vortrag. Die Menge ist unfähig, die Wahrheit als solche zu erfassen, lässt sich von Meinungen und Leidenschaften leiten und zieht eine scheinbar wahre Lüge der unwahrscheinlichen Wahrheit vor. Deshalb müsse man ihr selbst dann, wenn man ihr die Wahrheit verkünden wolle, diese in die Form des Scheins, des Trugs und der Illusion kleiden. Dazu eignet sich – neben Sophistik und Demagogie – die Schauspielkunst. Die „Machart“ als die eigentliche „Kunst“ muss bewusst verborgen werden und als „natürlich“ erscheinen.84 Die richtige Handhabung dieser Mittel birgt beträchtliche Möglichkeiten; so ist es zum Beispiel realisierbar, „Feinde und Freunde, wenn sie es sind, als solche darzustellen; wenn sie es aber nicht sind, sie dazu zu machen und die, [<< 61] die behaupten, das eine oder andere zu sein, zu widerlegen und die, die zweifeln, ob aus Zorn oder aus Feindschaft etwas geschehen ist, zu der Meinung, zu der man es sich vornimmt, zu bringen“.85 Das heißt, man muss sich nicht an den Verstand, sondern an die Affekte wenden, man muss die Leidenschaften der Menge manipulieren. Theaterspiel ist nicht um seiner selbst willen zu fördern, sondern als Vehikel für eine wirksame Rhetorik.
Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) lässt den Redner Gemüt und Charakter der Zuhörer formen. Vor dem schlechten Beispiel der Schauspielkunst ist eine Rhetorik als eine Art bessere Schauspielkunst zu entwickeln. Selbst wenn es neben der philosophischen und historischen Wahrheit eine künstlerische Wahrheit geben sollte, so ist diese doch nach antik-philosophischem Diskurs gegenüber den anderen beiden von geringerem Wert, da sie an die niedere Schauspielkunst gebunden ist. Der Redner ist aber in seiner höheren Schauspielkunst der Wahrheit des Philosophen und des Geschichtsschreibers nicht mehr verpflichtet.86 Er soll die Nachahmung nur diskret andeuten, sodass der Hörer sich mehr denkt, als er sieht. Zwar verhüllen oder enthüllen sowohl die Rhetorik als auch die Schauspielkunst Wahrheit durch Erwecken von Wahrscheinlichkeit, Schein und Illusion, aber sich mit Rhetorik ausführlich zu beschäftigen, bringt Ansehen, während Schauspielern als Handwerk zu vernachlässigen ist. Obgleich die Rhetorik in der Renaissance in eine Krise geraten und selbst zum Gegenstand humanistischer Satire werden wird – man denke nur an Erasmus’ amüsanten Dialog Der Ciceronianer –, bleibt sie auch dann für den rhetorischen Schauspielstil noch bedeutsam.87
1.5.3 Die christliche Theaterfeindschaft
Die Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft sollte nach dem Willen der Kirchenväter durch eine besonders enthaltsame Lebensweise ausgedrückt werden, die der römischen Verschwendungssucht eine Absage erteilt. In seiner traditionsbildenden Schrift De spectaculis verwirft Tertullian daher sämtliche Spiele, besonders aber jeglichen Besuch von Spielen durch Christen. In den Abschnitten 1 bis 13 wird vor allem der heidnische Charakter von Spielen herausgestellt, weshalb sie zum Götzendienst (Venus, Bacchus) verführen würden. In den Kapiteln 14 bis 28 betont er den körperliche Leidenschaften erregenden und unsittlichen Charakter der Spiele, dem sich eine [<< 62] kämpfende Kirche entgegenzustellen habe. Die beiden abschließenden Abschnitte verweisen im Sinne der Welttheatermetapher auf das Schauspiel der Wiederkunft des Herrn als das größte Schauspiel aller Zeiten, das andere überflüssig mache. Die im philosophischen Wahrheitsdiskurs vorgebrachten Gründe begleiten den Angriff Tertullians, der gesellschaftliche Erneuerung befördern soll: Heidnisch sind die Darstellungen nicht nur im theologischen Sinne, sondern auch, weil sie unwahre Abbilder mit den Eigenschaften Täuschung (Maske, Kothurn), Fälschung (Fiktion) und Verstellung (Stimme, Geschlecht, Alter, Kleidung) produzieren.
Die tiefe Bußgesinnung unter den monotheistischen Christen hebt sie aus der Masse jener Menschen heraus, die mehreren Göttern huldigen. Man unterwirft sich selbst dem ethischen Impetus, zunächst das eigene Leben zu ändern, und sei es auch auf einem peripheren Feld. Bei der enormen Nähe zum Beispiel zu den Glaubensinhalten und der Kultausübung für den Gott Mithras muss insbesondere der christliche Moralkodex eine Differenz herstellen, die im Widerstand gegen den als ein locker vereinigendes Band initiierten Kaiserkult gipfelt. In den daraus erwachsenden Christenverfolgungen (bis 311) bilden oft Folter- und Hinrichtungsszenen, an Christen begangene Gräuel, den Höhepunkt von Spielen, was deren Ablehnung umso einsichtiger macht. Bis ins 4. Jahrhundert hinein müssen sich die Kirchenväter jedoch auf Appelle beschränken, man kann in praxi kaum Einfluss auf das Spielgeschehen nehmen, bevor sich nicht das Christentum als Staatsreligion durchgesetzt hat.
Bei aller allgemeinen Ablehnung der Spiele gilt dem Kampf gegen den Mimus die oberste Priorität, da er Heidnisches und Körperliches unentwirrbar verflicht, weil er kaum über Texte fassbar ist und weil sich das Lachen stärker als jede andere Wirkung von Spielen rationalistisch-moralischer Argumentation entzieht. Zwischen Tertullian und Johannes Chrysostomus, Patriarch von Konstantinopel, erringt der Mimus die Vorherrschaft im römischen Theaterwesen. Chrysostomus gehört zu jenen gelehrten Kirchenoberhäuptern, die besonders häufig, intensiv und über einen langen Zeitraum gegen Theater predigen und auf diese Weise viele wertvolle Informationen überliefern. Wenn die Darstellungen auf den griechischen Bühnen einigen Philosophen ein Dorn im Auge waren, weil sie ihre Sozialutopien unterliefen, einigen Geschichtsschreibern, weil sie historische Vorgänge variierend interpretierten, dann ist der römische Mimus für Chrysostomus deshalb so abgrundtief verwerflich, weil er die Aufmerksamkeit der Gläubigen von der Kirche abzieht. Auch hier liegt wieder ein Konkurrenzverhältnis dem stets aufs Neue ausgesprochenen Bann zugrunde:
„Unaufhörlich schwatzen die Christen von den Miminnen, ihren Worten, ihrer Gestalt, ihrem Putz. Mimen, Pantomimen und Wagenlenker sind ihr tägliches Gespräch. Psalmen [<< 63] oder Stellen aus der heiligen Schrift weiß kaum einer herzusagen […] Wenn die Frau viel in die Kirche geht, gleich ist der Mann unzufrieden; er selbst aber geht tagelang ins Theater und zum Mimus. Man kommt aus dem Mimus mit unheiligen Gedanken zur Kirche; man vergisst, dass unsichtbare Engelchöre mit der Gemeinde mitsingen und steht lachend da vor dem Angesichte Gottes; man vergisst, dass man im Gotteshause ist und nicht im Theater. Was in der Kirche erbaut wird, wird durch den Mimus eingerissen. Wie eine trübe Schlammquelle verschlemmt er das Feld, das die Kirche zu reinigen sich bemüht.“88
Chrysostomus scheut keine Mühe, in wachsender Erbitterung stets neue Bezeichnungen für den Mimus zu finden:
„Theater der Wollust, eine unheilbare Pest, ein Gift, eine verderbliche Schlinge, ein Katheder der Pestilenz, Hochschule der Unsittlichkeit, Schule der Üppigkeit, Tanzboden der Unkeuschheit, der feurige babylonische Ofen, den der Teufel selber heizt […] Die Mimen und Miminnen sind Dreckmenschen, Hunde und Schweine, die im Schmutze wühlen und grunzen, ja Kloaken […].“89
Selbst dieser Ausdruck sei noch viel zu harmlos, meint Johannes Chrysostomus, er wolle aber Milde walten lassen. Mimen und Miminnen sind ganz selbstverständlich von aller christlichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Er aber tritt, getreu seinen Überzeugungen, zusätzlich auch für die Exkommunikation von Besuchern des Mimus ein. Allerdings weiß er selbst, dass er kaum etwas erreichen kann.