Andreas Kotte

Theatergeschichte


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pädagogisch diejenigen äußeren Formen des menschlichen Verhaltens – Posen, Gesten, Rhythmen, Intonationen – herausarbeiten, die den Menschen sofort einen bestimmten ethischen Impuls, ein bestimmtes sittliches Erlebnis vermitteln; er will durch Äußeres auf das Innere in jedem Menschen einwirken und es formen. In seiner Beschreibung des Tanzes in den Gesetzen ist die Nachahmung unmittelbar mit dem Lebensprozess verflochten und wirkt als dessen Ritualisierung. So bestehe zum Beispiel kein Unterschied zwischen dem Kriegstanz, der alle beim Kampf auftretenden Bewegungen genau nachvollzieht, und dem allgemeinen Leben der Griechen etwa zur Zeit Homers. Diese Nachahmung ist ein notwendiges Mittel, um das Ethos zu schaffen, ohne welches die Kriegstaten jener Zeit unmöglich gewesen wären. Sie ist Bestandteil des kollektiven Erlebens. Schön ist daran allein der Zweck: Die Bewegungen des Tanzes, die das Verhalten des Menschen im Kampf, seinen Mut, seine Gewandtheit und seine Ausdauer beim Erreichen seines Zieles imitieren, müssen von allen in der entsprechenden Tradition Erzogenen unmittelbar als schön empfunden werden. Ähnlich fixiert und sozialisiert der Friedenstanz die Gesten und Posen von Menschen, die entweder nach eben erst überstandenen Mühsalen und Gefahren des Lebens zum Glück gelangt sind oder das früher schon vorhandene Glück mehren. Die „schönen Tänze“ werden nach zwei Gattungen unterschieden und erhalten einen geziemenden Namen, die kriegerischen den der Pyrrhiche und die friedlichen den der Emmeleia.

      Die musischen Künste, insbesondere Tanz und Theater, besitzen schon lange etwas, was die Staatsutopie eines einzelnen Denkers rationalistisch umzusetzen sich erst anschicken will. Diese Künste – seien sie nun beliebt oder nicht, gehören sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen oder nicht – sind proteisch, unausgerichtet, sie mäandern. Sie bilden das Gegenteil eines zielgerichteten Entwicklungsprojekts, stören oder verhindern es eher durch ihre Vielgestaltigkeit, weshalb sie auszugrenzen sind. Dafür wird ein eigener Wahrheitsdiskurs entworfen. [<< 59]

      Auf den Bühnen werden die dramatischen Dialoge kontrovers geführt. An ihnen sind mehrere Sprecher beteiligt. Wer also hat Recht? Wer vertritt die Wahrheit? Den Dialog wörtlich zu nehmen hätte bedeutet, den Schauspieler mit dem dargestellten Helden zu identifizieren. Dies verhindern aber jene Spezifika der Präsentation, die an eine reflexive Einstellung des Publikums appellieren: das Tragen von Masken, das Spielen sämtlicher Frauenrollen durch Männer, die verfremdende Theatermaschinerie. Sie entrücken die Vorgänge dem, was unmittelbar als wahr anzunehmen ist. Ein Feuerwerk phantastischer Einfälle der Alten Komödie erhebt Irrationalität geradezu zum Prinzip. Vor allem aber: Wie wahr kann eine Dichtung sein, die immer neue tragische Stücke über die immer gleichen mythischen Stoffe zeigt, wobei sich die Innovationen nicht nur wie bei den Rhapsoden in neuen Akzenten und Sichtweisen erschöpfen, sondern auch neue Handlungselemente und neue Figuren erfunden werden?

      Je mehr das Wahrheit-Lüge-Schema philosophisch zum Maßstab erhoben wird, desto unüberbrückbarer erscheint der Kontrast zwischen Dichtung und wissenschaftlicher [<< 60] Prosa. Wissenschaft fördert Erkenntnis, Dichtung höchstens Vergnügen. Letztere lügt, Geschichtsschreibung berichtet Wahres. Die Verschiebung erfolgt im 5. Jahrhundert, als in dichter Folge Dramen erscheinen. Tragödien- und Komödienwettbewerbe finden statt, Theater avanciert zur festen Institution der griechischen Polis. Die Theorie spricht von Lüge und die Praxis ignoriert dies. Platon schließt die Dichter aus seinem Staat aus, obwohl sie sich gerade im perikleischen Zeitalter so intensiv um die Verbesserung des Gemeinwesens verdient machen. Später erkennt Aristoteles die Bemühungen der Dramatiker an, aber erst zu einer Zeit, als Drama und institutionalisiertes Theater ihre gesellschaftliche Bedeutung schon einbüßen.

      1.5.2 Schauspielkunst als Hilfsdienst für Rhetoren