den postcolonial studies) angesehen werden kann.4 Sie reflektiert den transdisziplinären Triumphzug eines Themas, das auf komplexe Weise diskutiert wird: Die wissenschaftliche Frage nach Identität schließt heute die nach Differenzen ein. Es geht in der Regel nicht länger um stabile ,Wesenheiten‘, sondern um Prozesse der Identifizierung und der Herstellung von Zugehörigkeiten, die (z. B. in der kognitivistischen Theorie) wieder verstärkt positiv konturiert, aber auch als nicht-voraussetzbare und oft brüchige gedacht werden.
Vor dem Hintergrund dieses zwiespältigen Aktualitätsbefunds ist die Geschichte des Redens über Identität im Folgenden näher zu beleuchten. Zwei Hinweise sind einleitend noch erforderlich: Erstens sind Geschichten immer ein bisschen zu einfach. Wenn ich davon erzähle, dass Identität in der Theorie der Moderne eher positiv besetzt, in der der Postmoderne kritisiert worden ist – und ,nach der Postmoderne‘ vielleicht ein comeback erfährt, so ist ergänzend festzuhalten: Die gleiche Geschichte lässt sich auch als Geschichte andauernder Verhandlungen zwischen zwei Polen beschreiben. Historisch gesehen, stellt die Wende zum 19. Jahrhundert den Moment dar, in dem Identität auf neue, für die Moderne prägende Weise ins Spiel des Wissens gelangt ist. Die Zeit um 1800 ist die Geburtsstunde des Denkens in ,Geschlechtscharakteren‘, ,Rassen‘ usw., die als unveränderlich-,essentielle‘ gedacht und in der Natur der Menschen begründet wurden.5 Zugleich aber lässt sich auch der Beginn moderner Identitätskritik auf diesen Moment datieren: Kant, der als Anthropologe selbst an der Aufteilung der Menschen in ,Rassen‘ beteiligt war, formulierte als Erkenntnistheoretiker, dass Identität erst durch die Konstruktionsleistung eines denkenden Ich entsteht.6 Ähnliche historische und theoretische Verschlingungen der Bewegungen ,pro‘ und ,contra‘ Identität werden auch für die verschiedenen Momente des Nachdenkens über gender zu zeigen sein. Leicht zu [<< 56] Irritationen führen kann, zweitens, dass der Identitätsbegriff der Bezeichnung individueller ebenso wie kollektiver Formationen dient (einerseits der „Ich-Identität“, andererseits z. B. der gemeinsamen Identität von Frauen als Frauen). Beide Formen sind analytisch selbstverständlich unterscheidbar, fungieren in den Debatten um Identität über weite Strecken aber auf so eng verflochtene Weise, dass es mir nicht als sinnvoll erschien, sie für den Rahmen dieser Darstellung kategorisch zu trennen. Aufschlussreich ist vielmehr die Art und Weise, in der das ,Ich‘ und das ,Wir‘ jeweils miteinander verbunden werden.
Die folgende Kurzdarstellung wichtiger Stationen und Aspekte des Redens über Identität in der Geschlechterforschung schließt jeweils Verweise auf zentrale wissenschaftsgeschichtliche, d. h. hier philosophische und sozialwissenschaftliche Bezugspunkte ein. Sie geht von der Prämisse aus, dass die Identitätsdebatten in der Geschlechterforschung nicht von anderen wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit getrennt werden können: Auf exemplarische Weise zeigt die Identitätsfrage, wie Gender@Wissen, d. h. als Schnittstelle jeweils aktueller inter / disziplinärer Konfigurationen funktioniert. Nicht weniger eng verflochten sind die Diskussionen um Identität mit den anderen theoretischen Feldern, die die folgenden Beiträge besprechen. So wurde bereits darauf verwiesen, dass Identitäten in der Moderne maßgeblich mit ,Natur‘ begründet worden sind und dass Gedächtnisprozesse einen zentralen Aspekt von Identitätsbildung darstellen. Nicht weniger grundlegend ist z. B., dass – vor allem individuelle, aber auch kollektive – Identitäten in der westlichen Tradition maßgeblich im Rekurs auf Körper(bilder) imaginiert worden sind (die wiederum eng mit ,Natur‘ zusammengedacht wurden). Die Liste wird fortzusetzen sein: Dieser und die folgenden Beiträge werfen einander ergänzende, unterschiedlich akzentuierte Blicke auf ein theoretisches Feld, auf dem sich die jeweils besprochenen Konzepte in komplexer Weise überlagern.
Das ,andere Geschlecht‘ auf dem Weg zur Subjektwerdung:
Simone de Beauvoir
Simone de Beauvoirs Klassiker Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (zuerst 1949) wurde Ende der 1960er zu einem zentralen Referenzpunkt der neuen Frauenbewegung. Auch hier kann ein Blick auf ihn helfen zu verstehen, worum es in Sachen Identität in der Geschlechterforschung geht – und woher diese Problemkonfiguration wissenschaftsgeschichtlich kommt. Schon der Titel von Beauvoirs Werk benennt die grundlegende Asymmetrie, die ihr zufolge das Verhältnis der Geschlechter [<< 57] charakterisiert: „Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“ 7 Diese Begriffe entstammen dem Wortschatz G. W. F. Hegels, des einflussreichsten ,Identitätsphilosophen‘ des 19. Jahrhunderts. Bezugnehmend auf die Begriffe der antiken Logik, hat Hegel ein Denk,system‘ entworfen, in dem Identität, salopp formuliert, der Anfang und das Ende von allem ist. So erweist sich der Mensch, anthropologisch gedacht, im Unterschied zu Natur und Tieren dadurch als Mensch, dass er seine (virtuell immer schon gegebene) Identität als Bewusstsein seiner selbst, sich selbst in der ,reflektierten‘ Beziehung auf sich erfasst.8 Hegels idealistischer Philosophie zufolge besteht auch der Gang der Weltgeschichte in der Entfaltung dieses Selbstbewusstseins, das untrennbar mit ,Freiheit‘, Hegels zweitem Lieblingskonzept, verknüpft wird. Dieser Prozess aber erfordert eine Konfrontation des Selbst mit dem Anderen: Durch Differenzierung von ihm suchen das Subjekt wie der ,Weltgeist‘ ihre Selbstidentität zu beweisen. Auf der individuellen Ebene beschreibt Hegel diesen Prozess als Kampf zweier ,Selbstbewusstseine‘, durch den ein Herr-Knecht-Verhältnis etabliert wird. Beauvoir paraphrasiert: „das Subjekt setzt sich nur, indem es sich entgegensetzt: es hat das Bedürfnis, sich als das Wesentliche zu bejahen und das Andere als das Unwesentliche, als Objekt zu setzen.“ 9 Sowie: „Keine Gemeinschaft definiert sich jemals als das Eine, ohne sofort das Andere sich entgegenzusetzen.“ 10
Die Begriffe des Subjekts und des Anderen aber sind geschlechtlich codiert: Er identifiziert das Weibliche mit dem Anderen (und damit u. a. mit Natur und Körperlichkeit). So wird der ,Herr‘ durch Unterscheidung von ,der Frau‘ zum ,Menschen‘. Beauvoir verweist einleitend darauf, dass der Begriff homme im Französischen (wie man im Englischen) den „Mann“ mit dem „Menschen“ gleichsetzt.11 Ihr Werk ruft zur Überwindung dieser Kopplung auf, die der Frau den Zugang zur ,menschlichen‘ Kondition verstellt: Auch die Frau muss Subjekt werden. Dass dies möglich ist, begründet Beauvoir, indem sie sich – teilweise – von der Philosophie der Identität abgrenzt: Mit Hegels Worten akzentuiert sie gegen ihn, dass das ,Sein‘ der Geschlechter nur „geworden sein“ ist, Reaktion auf eine „Situation“ eher als „unbeweglich fixierte[…] Wesenheit“.12 Das heißt nicht, dass die Differenz der Geschlechter in der Gegenwart nicht real wäre. Doch – in den Worten, für die [<< 58] Beauvoir berühmt geworden ist – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ 13 In diesem Sinne ist Beauvoirs Theorie ,anti-essentialistisch‘, nur sehr bedingt allerdings in dem Sinne, mit dem dieser Begriff in den Debatten der letzten Jahrzehnte meistens verknüpft worden ist: Die biologistische Argumentation, die seit dem 19. Jahrhundert das ,Wesen‘ des Geschlechts begründet hat, wird von ihr nicht (wie von vielen gender-Theoretikerinnen heute) direkt angegriffen, sondern nur in ihrer Bedeutung relativiert: Die „biologischen Voraussetzungen“ bilden kein „unausweichliches Geschick“, denn „die Definition des Menschen ergibt, dass er nicht ein gegebenes Wesen ist, sondern eines, das sich zu dem macht, was es ist.“ 14 Hier zeigt sich Beauvoirs Zugehörigkeit zur Philosophie des Existentialismus (Sartre, Merleau-Ponty und andere). Aus der Perspektive der „existentialistischen Ethik“ setzt sich das Subjekt in einem Akt der ,freien Wahl‘.15
Die