wächst der Verbwortschatz deutlich an, bevor gegen Ende des dritten Lebensjahres auch immer mehr Funktionswörter hinzukommen (Kauschke 2015).
1.2.4 Ausbau und Strukturierung im Vorschul- und Schulalter
Im Vorschul- und Schulalter setzt sich der rasche Ausbau des Wortschatzumfangs weiter fort. Rice / Hoffman (2015) konnten dokumentieren, dass sich dieser rasante Zuwachs des Wortschatzes erst im Alter von zwölf Jahren signifikant verlangsamt. Der rezeptive Wortschatzumfang eines Schulanfängers wird auf etwa 9.000 bis 14.0000 Wörter geschätzt (Clark 1993; Pinker 1994) – in jedem Schuljahr kommen etwa 3000 neue Wörter hinzu (Anglin 2005; Nippold 2007). Hierzu gehören nun auch immer mehr bildungssprachliche Ausdrücke, Abstrakta, Fachtermini und Fremdwörter (Glück / Spreer 2015). Um sich die Bedeutung von neuen Wörtern erschließen zu können, bedienen sich Kinder aktiver Erwerbsstrategien wie dem Nachfragen (Ulrich 2012; Rupp 2013; Motsch et al. 2016).
kreative Wortbildungsprozesse Fortschritte in der morphologisch-syntaktischen Entwicklung ermöglichen es, aus der grammatischen Struktur von Äußerungen Hinweise auf Wortbedeutungen zu ziehen (syntaktisches bootstrapping, z. B. Nippold 2007; Rupp 2013). Zudem können kreative Wortbildungsprozesse wie Komposition und Derivation genutzt werden, um aus vorhandenen Wörtern neue Wörter zu „erschaffen“ und so Lücken im Lexikon zu überbrücken (Kauschke 2000, 2015; Rothweiler / Kauschke 2007). Komplexe Wörter, die aus mehreren Morphemen zusammengesetzt sind, können in ihre einzelnen Bestandteile zergliedert und so besser analysiert werden (Rothweiler 2001). Durch die immer stärkere Ablösung der Wortbedeutung von konkreten Situationen verstehen Kinder ab dem Schulalter nun auch metaphorische oder übertragene Bedeutungen, Ironie und Pointen von Witzen (Kauschke 2000). Für das Wortlernen verliert das konkrete Handeln in Interaktionskontexten immer mehr an Bedeutung; stattdessen werden zunehmend Beobachtungen sowie Gespräche mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen für das Wortlernen genutzt (Anglin 2005; Marks 2017).
Auch die zunehmenden schriftsprachlichen Fertigkeiten der Kinder unterstützen den raschen Ausbau des kindlichen Wortschatzes. Spätestens ab dem Alter von acht Jahren wird das Lesen für viele Kinder zu der primären Quelle der Wortschatzerweiterung (Anglin 2005). Mithilfe des Lesens eignen sich Kinder insbesondere über die Alltagssprache hinausgehende, bildungssprachliche Ausdrücke sowie eine Vielzahl von fachspezifischen Begriffen an (Glück / Spreer 2015; auch Nippold 2007; Vadasy / Nelson 2012).
Umstrukturierung des Lexikons Mit der Zunahme des Lexikonumfangs steigt die Notwendigkeit, vorhandene Einträge zu organisieren und zu strukturieren. Während im Lexikon jüngerer Kinder in erster Linie thematische Gliederungsstrukturen dominieren, gewinnen ab dem Vorschulalter kategoriale Aspekte bei der Organisation des Lexikons eine immer größere Bedeutung.
Thematisches – kategoriales Sortieren: Anton, drei Jahre alt, sortiert Bildkarten nach thematischer Zugehörigkeit: Hund, Katze, Futternapf gehören für ihn zusammen. Sein älterer Bruder Lasse, sechs Jahre alt, legt nur die Bildkarten von Hund und Katze zusammen („Das sind beides Tiere.“).
Diese Umstrukturierung in Richtung einer hierarchischen Organisation vor allem des Nomenwortschatzes wird als „syntagmatic-paradigmatic shift“ oder „thematic-taxonomic shift“ bezeichnet (Glück 2010; Ulrich 2012). Bis in das Erwachsenenalter hinein behalten thematische Gliederungsstrukturen aber dennoch eine wichtige Funktion für die Speicherung, Verknüpfung und den Abruf von Wörtern.
1.3 Voraussetzungen für erfolgreiches Einspeichern und Abrufen von Wörtern
Wie in Kapitel 1.2 beschrieben, ermöglicht das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren im ungestörten Spracherwerb eine sichere Einspeicherung der Lexikoneinträge (Abb. 8).
Abb. 8: Faktoren für das erfolgreiche Einspeichern von Wörtern
Je differenzierter und facettenreicher das Wissen zu einem Wort ist und je mehr Verknüpfungen zu anderen, bereits vorhandenen Einträgen hergestellt werden können, umso tiefer wird dieses Wort im Netzwerk des mentalen Lexikons gespeichert. Der regelmäßige Gebrauch eines Wortes führt sowohl zu einer vertieften Einspeicherung als auch zu einer erhöhten Abrufstärke dieses Eintrags (Dannenbauer 1997; Nippold 2007).
Die Erhöhung der Verwendungshäufigkeit eines Wortes führt sowohl zu einer tieferen Einspeicherung als auch zu einem verbesserten Zugriff auf dieses Wort.
Abrufkapazität Die Abrufkapazität eines Wortes kann zudem von einer Reihe weiterer Faktoren beeinflusst werden (Nippold 2007). Hierzu gehört die Frage danach, ob externe oder eigens generierte Hinweisreize vorhanden sind, um eine ausreichende Aktivierung des Eintrags zu erreichen (Kap. 1.1). Erhalten mehrere ähnliche Einträge ein vergleichbar hohes Maß an Aktivierung, kann dieser „Wettstreit“ der Einträge den Abruf des Zielwortes beeinträchtigen. Zudem spielt der Zeitpunkt des Erwerbs eine Rolle: Während früh gelernte Wörter in der Regel häufiger gebraucht wurden, dadurch tiefer eingespeichert und leichter abrufbar sind, fällt der Abruf von neu gelerntem Gedächtnismaterial oftmals aufgrund der noch „frischen“ Gedächtnisspuren leichter (Ulrich 2012). Intrinsische Motivation und Interesse, emotionaler Druck und Stress gehören zu externen Einflussfaktoren auf den Wort abruf (Dannenbauer 1997; Ulrich 2012). Jedoch auch die Beschaffenheit des Wortmaterials selbst kann den Abruf erleichtern oder erschweren. Bei der Auswahl von exemplarischem Wortmaterial können folgende Einflussfaktoren auf den Wortabruf berücksichtigt / kontrolliert werden:
■ Wortfrequenz,
■ Erwerbsalter,
■ Anzahl phonologisch ähnlicher Wörter (= phonologische Nachbarschaftsdichte),
■ Frequenz der phonologischen Nachbarn,
■ phonotaktische Regularität der Lautstruktur,
■ Wortlänge,
■ Konkretheit,
■ Vertrautheit,
■ Regularität des Betonungsmusters.
Beier J., Siegmüller, J. (2013): Kindliche Wortfindungsstörungen. In: Ringmann, S., Siegmüller, J. (Hrsg.), 79-102
Dannenbauer, F. M. (1997): Mentales Lexikon und Wortfindungsprobleme bei
Kindern. Die Sprachheilarbeit 42 (1), 4-21
Glück, C. W. (2010): Kindliche Wortfindungsstörungen. Ein Bericht des aktuellen Erkenntnisstandes zu Grundlagen, Diagnostik und Therapie. 4. Aufl. Peter Lang, Bern
Siegmüller, J. (2005): Einflüsse von Frequenz und Erwerbsalter auf das Benennen bei Kindern mit Wortfindungsstörungen. Logos Interdisziplinär 13 (1), 15-20
Ulrich, T. (2012): Effektivität lexikalischer Strategietherapie im Vorschulalter. Eine randomisierte und kontrollierte Interventionsstudie. Shaker, Aachen
Abrufqualität Die Abrufqualität setzt sich zusammen aus den Komponenten der Abrufgenauigkeit und der Abrufgeschwindigkeit. Für die allmähliche Zunahme beider Komponenten im Rahmen des Spracherwerbs wird der zunehmende Einsatz von Speicher- und Abrufstrategien verantwortlich gemacht (Glück 2010; Ulrich 2012):
■ Speicherstrategien: z. B.
– Memorieren: mehrfaches Vorsprechen (laut oder leise, rehearsal), mehrfaches Hören / Aufschreiben / Lesen des Wortes,
– Elaborieren: Verknüpfen mit bereits vorhandenem Wissen im Netzwerk, Ausdifferenzieren der Einträge (z. B. Eselsbrücken, Suche nach ähnlichen Wörtern, Suche nach passendem Satzrahmen),
– Segmentieren: umfangreiche Informationen zu kleinen „Päckchen“ schnüren (z. B. Gruppieren von Elementen, Rhythmisieren, silbisches