Marianne Franz

Die katholische Kirche im Pressediskurs


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Mediensystem enthält im Grunde bereits durch seine Beschaffenheit „eine Art von ‚eingebautem‘ Unschärfemechanismus, ein Prinzip des Medienrelativismus“ (Bentele 2008: 286). Dies ist unumgänglich, weil einerseits journalistische Selektion für die Berichterstattung notwendig und andererseits Falschberichterstattung unvermeidbar ist (Bentele 2008: 286): „[…] die mehrstufige Selektion von Information […] basiert auf einem Set von NachrichtenwertenNachrichtenwert, die – kulturell entstanden – relativ stabil sind und in welche Journalisten jeweils ‚einsozialisiert‘ werden.“Realität, objektive

      Doch Selektion muss noch nicht Verzerrung oder Missachtung der RealitätsadäquatheitRealitätsadäquatheit bedeuten. Innerhalb der Mediensysteme gibt es neben der Voraussetzung der Sprache und den angesprochenen NachrichtenwertenNachrichtenwert auch vorgegebene, historisch gewachsene und sich weiterentwickelnde Normen (bei Schmidt in etwa „Kultur“), die einerseits die Rekonstruktionsfähigkeit und andererseits die Realitätsadäquatheit gewährleisten bzw. beeinflussen:

      „Die journalistische Objektivitätsnorm und auf der Rezipientenseite der Glaubwürdigkeitsmechanismus können in dieser Perspektive als Gegentendenzen zu medialen Verzerrungstendenzen aufgefaßt werden. Diskrepanzerfahrungen des Publikums sind wichtig, weil sie über negative ökonomische und imagebezogene Auswirkungen auf die entsprechende Medienorganisation deren Präzisionsgrad und deren Bezugnahme auf die soziale Wirklichkeit mitsteuern.“ (Bentele 1996: 137)

      Diese Diskrepanzerfahrungen sind schließlich auch ein Indiz, wenn nicht sogar ein Beweis dafür, dass es so etwas wie RealitätsadäquatheitRealitätsadäquatheit bzw. -verzerrung gibt.

      Die fünfte und letzte Grundposition steht mit der vierten in unmittelbarem Zusammenhang:

      „Objektive Berichterstattung ist daher – verstanden als adäquate Realitätsrekonstruktion – nicht nur normativ sinnvoll, sondern auch faktisch realisierbar. Die Feststellung irgendeiner Art von verzerrender Berichterstattung setzt logisch immer die Möglichkeit unverzerrter Berichterstattung voraus.“ (Bentele 2008: 280)

      Die Frage ist nun: Was bedeutet „die Realität adäquat rekonstruieren“? Bentele definiert dazu den Objektivitätsbegriff neu. Objektivität sei über subjektive Akte möglich und weise Merkmale auf wie „Richtigkeit der verwendeten Aussagen“ (Wahrheitspostulat) und „Vollständigkeit in Bezug auf den verwendeten Sachverhalt“ (Vollständigkeitspostulat). Wichtig ist die gleichzeitige Erfüllung beider Kriterien. Eine Aussage kann zwar richtig, in den falschen Kontext gebracht (also entkontextualisiert) jedoch alles andere als „realitätsadäquat“ sein. Ebenso können die berichteten Informationen zwar richtig sein, wichtige andere hingegen („absichtlich oder unabsichtlich“) verschwiegen worden sein (Bentele 2008: 328). Das Vollständigkeitspostulat will dem entgegenwirken. Es besagt, dass „journalistische Aussagen über Ereignisse und Sachverhalte nicht nur richtig, sondern auch angemessen proportioniert zu produzieren“ sind. Vollständigkeit meint damit nicht die hundertprozentige Abbildung der Realität (die ja nicht möglich ist), sondern „die adäquat proportionierte Darstellung komplexer Realität“ (Bentele 2008: 328). Objektive Berichterstattung muss darüber hinaus möglichst transparent und damit auch nachvollziebar und letztlich nachprüfbar sein (vgl. Bentele 2008: 325f.).

      Noch einige Präzisierungen: Wie oben bereits erwähnt, ist Selektion nicht gleichzusetzen mit Verzerrung, sie steht nicht im Widerspruch zu Objektivität. Selektion bzw. die Erkenntnisprinzipien „Perspektivität“, „Selektivität“ und „Konstruktivität“ sind für die Berichterstattung unumgänglich, genauso wie die sprachliche Formulierung der einzelnen Realitätsausschnitte. Die Konsequenz ist Bentele zufolge (2008: 326), dass in den berichteten Ereignissen unweigerlich „eine Reihe subjektiver Momente enthalten“ ist. „Allerdings lassen sich ‚notwendig‘ subjektive, also konstitutive Anteile des Subjekts an der Produktion von Texten von solchen unterscheiden, die nicht notwendig sind.“ Selbst unterschiedliche Perspektiven desselben Ereignisses, so Bentele weiter (2008: 327), können immer noch objektive Darstellungen sein; dies ist jedoch nicht der Fall, „wenn eines der allgemeinen Objektvitätsprinzipien oder eine der Objektivitätsregeln verletzt wird (z.B. Richtigkeit; Vollständigkeit; Trennung von Deskription und BewertungBewertung [Stichwort Transparenz], etc)“.

      Ein Objektivitätsbegriff, wie er von Bentele beschrieben wird, erlaubt es nun wieder (zumindest teilweise, d.h., dort, wo die Metakriterien der Transparenz und Nachprüfbarkeit erfüllt sind), journalistische Berichterstattung auf ihre Realitätsadäquatheit zu überprüfen.

      Ziel dieses Abschnitts war es, die Grundprobleme realistischer und konstruktivistischer Ansätze zu umreißen und die eine oder andere Perspektive aufzuzeigen. Weder RealismusRealismus noch KonstruktivismusKonstruktivismus in ihren radikalen Versionen erscheinen mir für eine medienwissenschaftlicheMedienwissenschaft Untersuchung brauchbar zu sein. Realismus ist zu naiv. Eine objektive Realität ist selbst dem Forscher nicht zugänglich. Auch wenn ihm präzisere Analyseinstrumente zur Verfügung stehen, während wir im Alltag auf unseren Wahrnehmungsapparat allein angewiesen sind, ist seine Herangehensweise, seine Analyse, seine Interpretation der Ergebnisse durch seine Sicht der Wirklichkeit beeinflusst und daher immer subjektgebunden (wenn auch nicht subjektiv und willkürlich, wie Schmidt sagt). Der Realismus greift also zu kurz.

      Der radikale KonstruktivismusKonstruktivismus lässt jedoch empirische Untersuchungen sinnlos werden. Jeder ist Konstrukteur seiner eigenen Welt, die Realität, mag sie auch vorhanden sein, ist uns nicht zugänglich. Wir können über sie nichts erfahren. Das einzig Mögliche ist, verschiedene konstruierte Wirklichkeiten miteinander zu vergleichen. Dieser Vergleich bleibt jedoch auf Beschreibung beschränkt. In Bezug auf Berichterstattung kann nicht festgestellt werden, welcher Bericht der objektivere ist, der besser recherchierte. Objektivität wird umgewandelt zu Viabilität. Medienethische Forderungen sind nicht länger normativ, sondern allenfalls Zielvorstellungen, wenn nicht nur leise Empfehlungen.

      Auch diese Denkrichtung greift zu kurz. Sie entspricht nicht unseren Alltagswahrnehmungen, den Leserbriefen, in denen falsche Berichterstattungen kritisiert werden, den Widerrufen und Klarstellungen der Redaktionen. Wieso klarstellen, wenn alles nur Konstruktion ist? Warum sollen manche Konstruktionen mehr Gültigkeit haben als andere?

      Für die vorliegende Fragestellung wähle ich nun einen Weg dazwischen, den auch Schmidt und vor allem Bentele gehen. Beide haben versucht, mit ihren Ansätzen den „epistemologischen Solipismus“ (Bentele 1996: 131) des radikalen KonstruktivismusKonstruktivismus, radikaler hinter sich zu lassen und empirische Untersuchungen der Medienwirklichkeit bzw. MedienkritikMedienkritik wieder möglich zu machen. Ich ziehe für die Fragestellung meiner Arbeit nun folgendes Resümee:

      1 Es ist nicht möglich, die untersuchten Medienwirklichkeiten 1:1 mit der ontologischen Realität zu vergleichen.

      2 Da die Realität nach Bentele jedoch zumindest teilweise wahrnehmbar ist, ist es daher auch möglich, die Berichterstattung auf ihre Objektivität hin zu untersuchen, oder: auf ihre RealitätsadäquatheitRealitätsadäquatheit. Objektivitätskriterien sind dabei Richtigkeit, Vollständigkeit, Transparenz und Nachprüfbarkeit.

      3 Es ist außerdem möglich, einen intermedialen Vergleich zu ziehen – was auch getan wird, indem erstens drei unterschiedliche österreichische Zeitungen untersucht werden und zweitens drei französische. So werden einerseits sechs einzelne Medienwirklichkeiten, andererseits die Medienwirklichkeiten der zwei betroffenen Länder nachgezeichnet.

      4 Die Medienwirklichkeiten hängen nicht nur von den Journalisten ab, sondern auch vom dahinterstehenden System, wie Schmidt und Bentele feststellen. Das heißt, es handelt sich um Medienwirklichkeits (re)konstruktionen auf mehreren Ebenen (Presseagentur, Redakteur, Redaktion usw.). Eine Rolle spielt dabei auch die Kultur (im Sinne Schmidts). Dies wird in Bezug auf den Vergleich der österreichischen und französischen Medienwirklichkeiten besonders interessant: Inwiefern werden hier die verschiedenen Kulturen sichtbar?Inhaltsanalyse

      2.4.2 Inhaltsanalyse

      In diesem Abschnitt werden in aller Kürze die Ziele und das Verfahren der Inhaltsanalyse dargestellt.