Marianne Franz

Die katholische Kirche im Pressediskurs


Скачать книгу

folgen, interessieren sich weniger für die Übereinstimmungen zwischen medialer und nicht-medialer Realität, sondern vielmehr für die spezifischen Prinzipien, denen die mediale Realitätskonstruktion folgt.“ (Marcinkowski/Marr 2005: 431)

      Die Forschungsfrage der Medieninhaltsforschung aus kopernikanischer Perspektive lautet also:

      „‚Wie konstruieren die Medien die Wirklichkeit?‘ oder genauer: ‚Worin bestehen die Selektions- und Interpretationsregeln, nach denen Realität für uns in den Nachrichtenmedien definiert wird?‘ ‚Gibt es möglicherweise einen allgemeinverbindlichen Konsensus unter den Nachrichtenproduzenten?‘“ (Burkart 2002: 274f.)

      Theorien, die dieser kopernikanische Ansatz hervorgebracht hat, sind etwa die FrameFraming-Theorie oder eine weiterentwickelte NachrichtenwerttheorieNachrichtenwert (vgl. Marcinkowski/Marr 2005: 431).

      Neben den vielen Einsichten, die dem kopernikanischen Ansatz zu verdanken sind, wirft er auch einige neue, vor allen Dingen medienethische Fragen auf. So scheint er einen gewissen Relativismus nach sich zu ziehen, eine „Beliebigkeit, die jegliche Kritik an den Medien von vornherein ausschliesst“ (Marcinkowski/Marr 2005: 431f.). Wenn alles Konstruktion ist, wie kann dann festgestellt werden, ob eine Berichterstattung objektiv ist oder nicht? Haben Begriffe wie „Wahrheitstreue“ oder eben „ObjektivitätRealität, objektive“ ausgedient? Ist jede Forderung nach Objektivität illegitim? Oder wie Schulz es formuliert:

      „Wenn das, was wir für Realität halten, ein soziales Konstrukt ist, das in starkem Maße von den MassenmedienMassenmedien bestimmt wird, müssen wir dann nicht die Vorstellung einer objektiven, unabhängig vom Beobachter existierenden Realität aufgeben – und damit auch wichtige Regeln der journalistischen Profession wie Sachlichkeit, Wahrhaftigkeit, Unparteilichkeit?“ (Schulz 1989: 145)

      Radikale Konstruktivisten würden diese Frage klar bejahen (vgl. Maletzke 1998: 130f.). Bedeutet dies also das Ende der MedienkritikMedienkritik? Burkart (2002: 273f.) beschreibt einen Ausweg aus diesem Dilemma: „ObjektivitätRealität, objektive, Wahrheit, Neutralität als Prinzipien journalistischen Handelns“ seien „idealtypische Zielvorstellungen“ bzw. „handlungsleitende Normen, die das faktische Verhalten bestimmen sollen“. Dennoch: Die normative Forderung nach Objektivität würde umgewandelt zu einer unverbindlichen Empfehlung.

      Eine weitere Frage, die sich auftut: Wenn alles konstruiert ist – wie kann dann Forschung (natur-, geistes- sozialwissenschaftliche …) noch Allgemeingültiges hervorbringen? Anstatt von ObjektivitätRealität, objektive, von Verifikation und Falsifikation ist im Konstruktivismus die Rede von Viabilität und Validierung (vgl. Weber 2003b: 187).

      Es ist nachvollziehbar, dass für die vorliegende Arbeit, die von einer einseitigen, nicht neutralen, negativen Berichterstattung über die röm.-kath. Kirche ausgeht, solche Fragen zentral sind und nicht zuletzt über ihren Sinn und Unsinn entscheiden.

      Innerhalb der kopernikanischen Antwort bzw. der zahlreichen Spielarten des KonstruktivismusKonstruktivismus gibt es einige Lösungsansätze, diesen konstruktivistischen Relativismus zu umgehen. An dieser Stelle wird auf zwei Ansätze eingegangen, die fruchtbare Aspekte in die Debatte einbringen. Zum einen ist dies Schmidts Ansatz der zirkulären Wirklichkeitskonstruktion, zum anderen Benteles rekonstruktiverRekonstruktion Ansatz.

      Der Medienkulturwissenschaftler Schmidt hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ein non-dualistisches Modell der „zirkulären Wirklichkeitskonstruktion“ entwickelt. Non-Dualismus meint hier die Überwindung des Entweder-Oder von RealismusRealismus und KonstruktivismusKonstruktivismus bzw. der seit der griechischen Philosophie bestehenden Dichotomie von Wahrnehmung und Realität. Dadurch, so Schmidt, wird die Rede von Annäherung (der Wirklichkeitskonstruktion an die Realität) und Scheitern bzw. von der Wahrheit und der Realität hinfällig (vgl. 2000: 55).

      Wirklichkeit wird nach Schmidt „im Kreislauf von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur“ erzeugt und hängt nicht nur vom Subjekt und seinem kognitiven System allein ab (Weber 2003b: 187f.). Medien sind semiotische Kommunikationsinstrumente wie natürliche Sprachen, Kommunikationsmaterialien wie Zeitungen, technische Mittel wie Computer oder Kameras, soziale Organisationen wie Verlage oder Rundfunkanstalten sowie Medienangebote wie Zeitungsartikel oder Radiosendungen (vgl. Weber 2003b: 188).

      Abb. 8 fasst den Prozess der zirkulären Wirklichkeitskonstruktion gut zusammen:

      Abb. 8:

       Zirkulärer Prozess der Wirklichkeitskonstruktion (Quelle: Schmidt 1999: 123)

      Einerseits lebt jeder in seiner eigenen Wirklichkeit, andererseits geschieht die individuelle Wirklichkeitskonstruktion jedoch in Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion. Schmidt (1999: 124) sieht dabei die Individuen vor allen Dingen als Träger der Konstruktion und „nur bedingt als Gestalter“:

      „Mit anderen Worten, Wirklichkeitskonstruktionen von Aktanten sind subjektgebunden, aber nicht subjektiv im Sinne von willkürlich, intentional oder relativistisch. Und zwar deshalb, weil die Individuen bei ihren Wirklichkeitskonstruktionen […] immer schon zu spät kommen: Alles, was bewußt wird, setzt vom Bewußtsein unerreichbare neuronale Aktivitäten voraus, alles was gesagt wird, setzt bereits das unbewußt erworbene Beherrschen einer Sprache voraus; worüber in welcher Weise und mit welchen Effekten gesprochen wird, das setzt gesellschaftlich geregelte und kulturell programmierte DiskurseDiskurs in sozialen Systemen voraus. Insofern organisieren diese Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion sich selbst und erzeugen dadurch ihre Ordnungen der Wirklichkeit(en).“

      Kultur und Sozialisation sagen uns, wie wir uns in bestimmten Situationen zu verhalten haben. So wird beispielsweise das Gelingen der Kommunikation gewährleistet. Aufgrund unserer Erfahrungen haben wir unserem Gesprächspartner gegenüber eine bestimmte Erwartungshaltung. Mehr als das – wir erwarten, dass unser Gesprächspartner wiederum von uns Bestimmtes erwartet. Dies gilt nicht nur für sprachliche, sondern für jegliche Art von Handlungen. Schmidt spricht diesbezüglich von „Erwartungserwartungen“ sowie von „kollektivem Wissen“ (Schmidt 2000: 56). Geglückte Erwartungserwartungen bestätigen unser kollektives Wissen, bestätigen uns in unserem Tun.

      Das kollektive Wissen spielt auch eine bedeutende Rolle in der Frage nach dem Wahrheitsanspruch und nach der (Un-)Möglichkeit empiristischer Forschung. Bei Letzterer handelt es sich nicht um das Herausfinden der Realität, sondern um das Herausfinden von gemäß unserer Kultur und Erfahrung verlässlichen Fakten (vgl. Schmidt 2000: 55). Schmidt vertritt also ebenfalls die konstruktivistische Auffassung, dass Realität in keiner Weise zugänglich ist (nicht so Bentele: s.u.). Empirie ist möglich, sagt jedoch nichts über Realität aus, sondern erhebt „unsere Welt“, unsere gemeinsam konstruierte Welt, über die wir nicht hinaus können.

      Was sagt Schmidt zur Wirklichkeitskonstruktion in den Medien? Sie sind „menschliche Konstruktionen, die für menschliche Konstruktionen genutzt werden können. Darum bleibt der Mensch für sie verantwortlich“ (1999: 127). Schmidt lehnt es ab, Medien zu verabsolutieren, sie als Totalität zu sehen. Hinter den Medien stehen soziale Institutionen und Organisationen, die auf den ökonomischen Erfolg des Mediums aus sind (vgl. Schmidt 2000: 100–102).2 Die Wirklichkeitskonstruktion der Medien, ihre gesellschaftlichen Regelungen (etwa die Mediengesetze), aber auch ihre Inhalte werden demnach beeinflusst von „technische[n], ökonomische[n] und rechtliche[n] sowie politische[n] Faktoren“ (Schmidt 1999: 126).

      Doch nicht nur die Gesellschaft wirkt auf die Umwelt, auch die Medien nehmen Einfluss auf die Gesellschaft und die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion (ganz dem erwähnten Interdependenz-Modell entsprechend, s.o.). Nach Schmidt (2000: 103f.) wird massenmedialer Kommunikation oft unbegrenzte Nutzerreichweite unterstellt, was dazu führt, dass der Eindruck gewonnen wird,

      „alle wüßten, was man selbst weiß, und orientierten sich in vergleichbarer Weise an den Wirklichkeitskonstrukten, die in den Medien inszeniert werden. Damit wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß Aktanten dazu neigen, solche medialen Wirklichkeitskonstruktionen in ihre eigenen Wirklichkeitskonstruktionen einzubauen, was wiederum zu