Barbara Lux

Kurzwortbildung im Deutschen und Schwedischen


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bei deren Bildung neben der Kürzung auch andere Prozesse eine Rolle spielen oder die distributionelle Besonderheiten aufweisen. Diese Gruppe ist sehr heterogen, da die Gemeinsamkeit der darin enthaltenen Typen in erster Linie darin besteht, dass sie sich von den Gruppen der Akronyme und der Kurzwörter i.e.S. deutlich unterscheiden.

      Die Sonderfälle umfassen Pseudoableitungen, bei denen Suffigierung und Kürzung gleichzeitig eintreten, Kürzungskomposita und gebundene Kürzungen, deren Distribution eingeschränkt ist, sowie elliptische Kürzungen, bei denen semantische Gesichtspunkte einen stärkeren Einfluss auf den Output haben als phonologische.

      2.2.3.1 Pseudoableitungen

      Pseudoableitungen sind ein in beiden untersuchten Sprachen äußerst verbreitetes und produktives Phänomen. Bei einer Pseudoableitung „wird von der Vollform i.d.R. unisegmental eine einsilbige, konsonantisch auslautende Kopfform gebildet und diese im Deutschen mit -i, im Schwedischen mit -is suffigiert“ (Nübling 2001:176). Mögliche Suffixe sind nicht nur -i bzw. -is, sondern im Deutschen auch -o (Realpolitiker < Realo), -e (Lesbe < Lesbierin), -er (Elfer < Elfmeter) und seltener -a (Reala < Realpolitikerin) sowie im Schwedischen -o (fyllo < fyllerist ‚Säufer‘), -e (sosse < socialdemokrat) und -a (bibbla < bibliotek). Im Vergleich zu der großen Menge an Pseudoableitungen auf -i bzw. -is bleiben Bildungen mit anderen Suffixen jedoch marginal; daher soll in erster Linie auf Erstere eingegangen werden.1 Als zugrunde liegende Formen können Lexeme unterschiedlicher Wortarten dienen; die Resultate sind in beiden Sprachen jedoch überwiegend Substantive, wenn auch Adjektive möglich sind, die aber nicht flektierbar sind und nur prädikativ verwendet werden (dt. supi < super, logo < logisch und schwed. avis < avundsjuk ‚eifersüchtig‘, pretto < pretentiös ‚arrogant‘). Des Weiteren existieren im Schwedischen auch Interjektionen als Pseudoableitungen; diese beschränken sich meines Wissens aber auf die beiden viel zitierten Beispiele grattis < gratulerar ‚Glückwunsch‘ und tjänis/tjenis < tjänare ‚Servus‘ und sind eher als Randerscheinungen einzustufen.

      Wie auch die meisten Kurzwörter i.e.S. entstammen Pseudoableitungen dem mündlichen Sprachgebrauch; zudem sind sie besonders nähesprachlich. Kotsinas (2003b:9) ordnet zumindest neue Pseudoableitungen sogar dem Slang zu, wenngleich sie darauf hinweist, dass die Lexeme bei häufigem Gebrauch solche diastratischen Merkmale mit der Zeit verlieren können. Sehr häufig bezeichnen Pseudoableitungen Personen (dt. Ami < Amerikaner, schwed. kändis < känd person ‚Prominente(r)‘), häufig werden sie auch zu Personennamen (dt. Andi < Andreas, schwed. Sigge < Sigvard) gebildet. Dabei enthalten sie oft eine hypokoristische (dt. Schweini < Bastian Schweinsteiger oder schwed. Bäckis < Nicklas Bäckström) oder auch pejorative Note (dt. Transe < Transvestit, schwed. transa < transvestit). Weitere Beispiele für propriale und appellativische Pseudoableitungen im Deutschen und Schwedischen sind in Tabelle 9 zusammengestellt.

deutsche Pseudoableitungenschwedische Pseudoableitungen
Poldi < Lukas PodolskiSvennis < Sven-Göran Eriksson
Fundi < Fundamentalistkondis < konditori ‚Konditorei‘
Hunni < Hunderteuroscheinmultis < multinationellt företag ‚multinationales Unternehmen‘
Ossi < Ostdeutscherstammis < stammkund ‚Stammkunde‘

      Tabelle 9: deutsche und schwedische Pseudoableitungen

      Laurén (1976:316) ordnet Pseudoableitungen unter „final reduktion“2 ein, d.h. in derselben Kategorie wie Kopfwörter, weist jedoch darauf hin, dass genauere Untersuchungen dieses Phänomens erforderlich sind. Nübling (2001:176) spricht von „förkortning och suffixavledning“3, womit die beiden bei Pseudoableitung gleichzeitig stattfindenden Prozesse benannt werden. Ansonsten ist in der schwedischen Literatur von „is-ord“4 die Rede (z.B. bei Inghult 1968), wobei dieser Terminus die anderen möglichen Suffixe ausklammert.

      Sowohl im Deutschen als auch im Schwedischen gibt es i- bzw. -is-Bildungen, die nicht auf einer Kürzung beruhen, sondern bei denen das Suffix direkt an ein ungekürztes Lexem tritt, z.B. dt. Schlaffi < schlaff, Hirni < Hirn und schwed. tjockis ‚dicker Mensch‘ < tjock ‚dick‘, mjukis ‚Kuscheltier‘ < mjuk ‚weich‘. Diese Bildungen werden in dieser Arbeit jedoch nicht berücksichtigt, da es sich dabei um reine Suffigierungen ohne Kürzungsvorgang handelt und man folglich auch nicht von Kurzwörtern sprechen kann. Dadurch, dass i- und is-Bildungen mit und ohne Kürzung vorkommen können, handelt es sich hier um einen Grenzbereich der Kurzwortbildung, d.h. Pseudoableitungen stellen keine prototypischen Kurzwörter dar.

      Wie bei der Diskussion der Kopfwörter bereits angeklungen ist, weisen deutsche Pseudoableitungen formale Ähnlichkeit mit manchen auf -i auslautenden Kopfwörtern wie Abi < Abitur und Zivi < Zivildienstleistender auf. Anhand formaler Kriterien lässt sich in solchen Fällen nicht eindeutig klären, ob es sich um Kopfwörter oder suffigierte Kürzungen handelt. Da eine Suffigierung in solchen Fällen nicht nachweisbar ist, sollen nach Nübling (2001:176) derartige Belege als Kopfwörter eingestuft werden. Es wäre in weiteren Arbeiten zu prüfen, inwieweit hier Analogiebildung eine Rolle spielt, da eventuell hochfrequente Kopfwörter auf -i zu der Produktivität der Pseudoableitungen beigetragen haben könnten. Für das Schwedische, das keine auf -is endenden Kopfwörter kennt, kommt dieser Erklärungsansatz für die hohe Produktivität der Pseudoableitungen nicht in Frage.

      2.2.3.2 Kürzungskomposita

      Kürzungskomposita sind ebenfalls in beiden Untersuchungssprachen verbreitet. In den meisten Fällen ist die Vollform dieser Kurzwörter ein Kompositum; sie kann allerdings auch eine Wortgruppe sein. Charakteristisch für Kürzungskomposita ist nun, dass der erste Teil des Kompositums oder der Wortgruppe akronymisch auf einen oder mehreren Buchstaben gekürzt wird und der zweite Teil ungekürzt bleibt (siehe Tabelle 10). In beiden Untersuchungssprachen besteht der gekürzte Teil in den allermeisten Fällen aus ein oder zwei Buchstaben; es finden sich lediglich im Deutschen wenige Belege mit einem auf drei Buchstaben gekürzten Erstglied wie ABC-Waffen < atomare, biologische und chemische Waffen.

      Der gekürzte Teil eines Kürzungskompositums wird mit den Buchstabennamen ausgesprochen und kann nicht isoliert vorkommen. Als Kürzungskompositum wird daher das gesamte Kompositum und nicht nur der gekürzte Teil betrachtet. Die Bildungsweise von Kürzungskomposita ist nicht rein phonologisch bedingt, sondern berücksichtigt Morphemgrenzen, da eine oder mehrere Initialen von Morphemen der Vollform den ersten Teil des Kürzungskompositums bilden und das Zweitglied ein ganzes Morphem der Vollform ist. Die beiden Teile eines Kürzungskompositums werden meist durch einen Bindestrich verbunden. Im Deutschen werden die gekürzten Teile groß geschrieben; im Schwedischen kann die Orthographie zum Teil schwanken. Dort ist es bei einigen stark in den Normalwortschatz1 integrierten Kürzungskomposita möglich, auf den Bindestrich zu verzichten und sie bezüglich der Schreibung dem Normalwortschatz anzugleichen, z.B. ubåt < undervattensbåt ‚Unterseeboot‘.

deutsche Kürzungskompositaschwedische Kürzungskomposita
D-Radio < Deutschlandradioa-kassa < arbetslöshetskassa ‚Arbeitslosenkasse‘
AT-Motor < Austauschmotorf-skatt < företagsskatt ‚Unternehmenssteuer‘
O-Saft < Orangensafti-land < industriland ‚Industriestaat‘
P-Konto < Pfändungsschutzkontoso-ämne < samhällsorienterade ämne ‚gemeinschaftskundliches Schulfach‘

      Tabelle 10: deutsche und schwedische Kürzungskomposita

      Da der gekürzte Teil meist bis auf eine oder zwei Initialen gekürzt wird, entstehen sehr viele Homonyme zwischen den gekürzten Teilen (z.B. dt. U-Boot < Unterseeboot, U-Haft < Untersuchungshaft; schwed. p-piller < preventivpiller ‚Antibabypille‘, p-plats < parkeringsplats ‚Parkplatz‘). Die Existenz eines Zweitglieds verhindert