Pflichten des Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren bestehen unverändert fort, können aber nach § 393 Abs. 1 S. 2 AO nicht mehr mit den Zwangsmitteln der AO (§§ 328 ff. AO) durchgesetzt werden.
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Strafrechtlich steht dem Verdächtigen aber das Grundrecht der Selbstbelastungsfreiheit zu. „Nemo tenetur se ipsu accusare“ bedeutet, dass sich niemand selbst wegen einer (Steuer-) Straftat belasten muss. Daraus folgt ein weitgehendes Mitwirkungsverweigerungsrecht, aus dessen Inanspruchnahme keine negativen Schlüsse gezogen werden dürfen. Verweigert der Verdächtige aber im Strafverfahren zulässigerweise, im Besteuerungsverfahren jedoch unzulässig seine Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts, kann diese Mitwirkungsverweigerung steuerlich zu einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO führen. Damit kann die Inanspruchnahme des Grundrechts der Selbstbelastungsfreiheit zu einem steuerlichen Nachteil führen, den aber die Rechtsordnung aus fiskalischen Gründen hinzunehmen scheint. Darüber ist der Verdächtige entsprechend zu belehren. Die doppelte Belehrung (steuerlich wie strafrechtlich) muss dem Beschuldigten bei Bekanntgabe des Strafverfahrens zuteil werden.
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Nach der Rechtsprechung des BFH mindert sich das erforderliche Beweismaß einer steuerlichen Schätzung umso mehr, je größer die Mitwirkungspflichtverletzung des Steuerpflichtigen ist.[19] Die Schätzung hat grundsätzlich das Ziel einer größtmöglichen Wahrscheinlichkeit ihrer Ergebnisse. Infolge der Mitwirkungspflichtverletzung tritt aber eine Beweismaßerleichterung ein und das Finanzamt kann auch Ergebnisse mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit schätzen. Das kann praktisch bedeuten, dass die Umsätze höher geschätzt werden können ohne Ansatz zusätzlichen Wareneinkaufs, wenn die höheren Umsätze auch ohne diesen zusätzlichen Wareneinkauf noch möglich gewesen wären. Das gilt selbst dann, wenn bei Ansatz von zusätzlichem (geschätztem) Wareneinkauf das Schätzungsergebnis (der Gewinn als Besteuerungsgrundlage) wahrscheinlicher wäre, infolge der durch die Mitwirkungspflichtverletzung eintretenden Beweiserleichterung aber die geringere Wahrscheinlichkeit ausreichend ist. Diese Beweismaßerleichterungen sind aber bei einer strafrechtlichen Schätzung unzulässig.
ee) Wechsel des Verfahrens
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Nach der doppelfunktionalen Aufgabenzuweisung kann die Steuerfahndung je nach Aufgabe sowohl strafrechtlich wie steuerlich tätig werden. Dies gilt regelmäßig selbst für denselben Ermittlungsfall. In den strafrechtlichen noch nicht verjährten Jahren hat die Steuerfahndung strafrechtlich zu ermitteln. Ihr stehen dazu die oben skizzierten strafprozessualen Befugnisse zu, solange der Fall strafrechtlich noch nicht verjährt ist. Die strafrechtliche Verjährung beträgt bei der einfachen Steuerhinterziehung fünf Jahre, § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB i.V.m. § 370 Abs. 1 AO.
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Da die steuerliche Festsetzungsverjährung nach § 169 Abs. 2 S. 2 AO in Fällen der normalen Steuerhinterziehung zehn Jahre beträgt, wird der Steuerfahnder im Regelfall für die früheren Jahre nur steuerlich ermitteln können. Dafür stehen ihm nur die Befugnisse nach der AO zur Seite, nicht jedoch die der Strafprozessordnung.
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Trotz dieser Parallelität der Verfahren, allerdings mit unterschiedlichen Eingriffsbefugnissen, wird ein (willkürlicher) Wechsel der Verfahren regelmäßig nicht zulässig sein.
Teil 1 Tax Compliance und Unternehmen › 8. Kapitel Ermittlungsmethoden und -kompetenzen von Steuerfahndung und Betriebsprüfung und daraus resultierende Risiken › II. Ermittlungsanlässe und -umfang
1. Prüfungspläne der Betriebsprüfung
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In der Betriebsprüfung entscheiden die Prüfungspläne der BP–Stellen und Außenprüfungsämter (je nach Bundesland) über die zu prüfenden Fälle. Die Prüfungspläne werden halbjährlich oder jährlich von den Betriebsprüfungs – Sachgebietsleitern anhand verschiedener Hilfsmittel erstellt, unter denen die zum Teil langjährige Erfahrung ein wichtiger Faktor ist.
a) Fallmeldungen aus dem Innendienst der Finanzverwaltung
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Ein Teil der zu prüfenden Betriebe wird aufgrund von der Fallmeldungen der Veranlagungsstellen ausgesucht. Diese melden Fälle, bei deren Veranlagung nach Ansicht der Veranlagungs- Sachbearbeiter überprüfungsbedürftige Besonderheiten aufgetaucht sind. Im Interesse einer zeitnahen Veranlagung werden die Fälle dann zwar ohne weitere Überprüfung bearbeitet, die Festsetzung jedoch unter den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) gestellt und der Betriebsprüfung zu einer anschließenden Prüfung gemeldet. Nicht jeder gemeldete Fall schafft es auf den Prüfungsplan und nicht jeder Fall auf dem Prüfungsplan wird tatsächlich geprüft. Wenn sich andere Prüfungen zeitlich umfangreicher gestalten als geplant, können nicht alle Fälle auf dem Plan abgearbeitet werden. Sie werden dann vorgetragen auf den nächsten Prüfungsplan oder – häufiger – endgültig abgesetzt. Der Fall wird dann überhaupt nicht mehr geprüft. Der Vorbehalt der Nachprüfung fällt mit Eintritt der Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO) nach vier Jahren regelmäßig weg und die Veranlagung wird endgültig.
b) Risikokontrollsysteme und Zufallsauswahl
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Ein Teil der Prüfungsfälle wird dem Sachgebietsleiter von automatisierten Risikomanagementsystemen vorgeschlagen. Diese Systeme suchen in den Datenbeständen der Finanzveranlagung nach Faktoren für ein größeres steuerliches Risiko. Nach meiner Überzeugung ist Deutschland im Bereich der Betriebsprüfung[20] noch nicht sehr weit mit der Entwicklung eigener Risikomanagementsysteme, zumindest im Vergleich mit anderen EU-Staaten. Es ist verhältnismäßig leicht, ein mutmaßliches Risiko zu identifizieren. Viel schwerer ist es, die identifizierten Risiken zu bewerten und nur mit den als hoch eingestuften Risiken weiter zu arbeiten. An dieser Schwierigkeit scheitern viele Hinweissysteme, die alle Fälle mit erkanntem Risiko als Prüfhinweis ausgeben, der letztlich dann doch manuell weiterverarbeitet werden muss. Innerhalb der systemgesteuert vorgeschlagenen Prüffälle ist auch ein gewisser (niedriger) Prozentsatz von zufällig ausgewählten Fällen, um bei der Aufstellung der Prüfungspläne nicht berechenbar zu werden.
c) Risikofaktoren
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Ein weiteres Hilfsmittel der Betriebsprüfungs–Sachgebietsleiter bei der Erstellung der Prüfungspläne sind zum einen sog. Risikomerker, die in manchen Bundesländern manuell im Datenbestand der Steuerpflichtigen gesetzt werden können. Grundlage ist die persönliche Beurteilung des Sachbearbeiters, weswegen diese Risikomerker intern auch als „Bauchmerker“ ironisiert werden. Sie sind folglich meist sehr subjektiv.
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Zum Teil werden Risikofaktoren aber auch aus objektiven Kriterien gewonnen. Regelmäßig ist nicht nur ein einziges Kriterium entscheidend, sondern meist führt die Zusammenschau verschiedener Umstände zur Entscheidung der Prüfungswürdigkeit. Solche Kriterien können sein (in zufälliger Reihenfolge):
– | stark schwankende Umsätze und/oder stark schwankende Gewinne in mehreren aufeinander folgenden Jahren bei gleichbleibendem Geschäftsmodell; |
– | Verprobungsergebnisse im äußeren Betriebsvergleich (etwa sehr niedrige Aufschlagsätze, erheblich unter den amtlichen Richtsätzen[21]); |
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