Anita Florian

Die Ungeliebten


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danach übergeben musste. Langsam kaute sie die Speise und erhoffte, dass sie baldmöglichst aufstehen und sich vom Mittagstisch entfernen könne. Eine Weile später übergab sie sich, heimlich und von den Eltern niemals wahrgenommen. Ihr Körpergewicht war zu gering und ist es bis heute geblieben.

      „Ich hoffe nur, Bernadette gerät nicht nach mir“, sagte Franzine und verschränkte ihre Arme, „ noch hat sie einen gesunden Appetit, ich habe Angst wenn sie in die Pubertät kommt, dass ihr dasselbe widerfahren könnte, aber wahrscheinlich mache ich mir umsonst Sorgen, außerdem ist es noch zu früh um darüber nachzudenken, ich weiß, ich sollte damit aufhören.“

      „Bernadette?“ fragte Dorothea und wusste schon in diesem Moment, um wen es sich handelte. Franzines süße Tochter. Die kurze Begegnung mit ihr im Vorgarten ließ sie erstrahlen. Das war sie also, das kleine Mädchen mit dem Hund.

      „ Sie sieht sehr gesund aus, du solltest dir wirklich keine Gedanken machen. Sie muss um die fünf Jahre alt sein, nicht wahr? Sie hat mir auf sehr liebenswürdige Weise gezeigt wo ihr beide wohnt, der schöne Boxer hat es ihr wohl angetan?“ Dorothea nahm sich noch ein Plätzchen.

      „ Sie ist geradezu besessen von ihm, und der wilde kleine Kerl wohl auch von ihr, sie sind unzertrennlich wenn sie sich sehen. Sie wird am 3. Mai nächsten Jahres sechs Jahre alt, ich sehe sie noch als Baby vor mir, sie war so entzückend. Und auch Ferdinand war hingerissen von ihr.“ Franzine sprach zum ersten Mal von ihren Ehemann.

      „ Sie scheint ein kluges Kind zu sein“, Dorothea lachte, „ ihre frechen braunen Augen verraten hochgradige Intelligenz, das ist nicht zu übersehen.“

      „ Ich glaube, da wirst du wohl Recht haben, sie ist oft den gleichaltrigen Kindern um Längen voraus“, sagte Franzine voller Stolz. Sie schenkte noch Tee nach und setzte sich wieder zu ihrer Schwester.

      „ Wo ist er?“ fragte Dorothea ernst während sie ihren Tee umrührte. „Ehrlich, ich weiß es nicht, er darf mich hier nicht finden, es wäre alles aus, ich lebe in ständiger Angst er könnte herausfinden wo wir nun leben, das darf niemals passieren, niemals, verstehst du Dorothea?“ Franzine konnte kaum ihre Unruhe verbergen.

      „ Nur keine Angst liebe Schwester, uns wird schon was einfallen, aber vorher wirst du mir in allen Einzelheiten berichten. Und, ich bin nicht mit leeren Händen gekommen, im Auto habe ich ein Nikolaus Paket für Bernadette und für dich habe ich hoffentlich auch das Passende dabei, aber dazu später, du beruhigst dich erstmal und dann erzählst du mir alles, ganz langsam, keine Eile, ich bleibe über Nacht, wir rücken im Bett einfach zusammen, Bernadette kommt in die Mitte, fast so wie in alten Zeiten, was hältst du davon?“ sagte Dorothea glücklich und Franzines Gesicht durchzog ein wohliger Freudenschauer. Franzine holte tief Luft und begann zu erzählen.

      „ Ich habe einen riesigen Fehler gemacht, ich konnte nicht ahnen was auf mich zukam, ich war damals so glücklich mit ihm…..“

      (1961)

      Kurz nach Dorotheas Abschied konnte man Franzine nur als einen Backfisch bezeichnen, verschüchtert und sonderbar wortkarg erledigte sie ihre Arbeiten. Sie blieb die meiste Zeit so still wie möglich. Selten redete sie mit ihren Schulkameradinnen über Mode, Frisuren oder erste Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht. Freya bestand beharrlich darauf dass sie ihre Haare lang und zu zwei Zöpfen geflochten tragen musste. Das Widerlichste waren zwei rote Bänder aus Taft, die Freya in die Zöpfe geschickt hinein flocht und am Ende des Geflechts als Masche zierten. Das Auflösen wurde dadurch umso mehr erschwert und Franzine hatte keine Chance dieses verhasste Gebilde an ihrem Kopf loszuwerden. Immer wieder kam ihr der Gedanke beide Zöpfe abzuschneiden, doch Freya schloss die Schere und sämtliche Messer weg. Keine von den Schülerinnen wagten ihr auch nur annähernd anzudeuten dass sie bereit wären ihr diese Dinger abzuschneiden. Sie alle mussten die Anweisungen ihrer Mutter befolgen, selbst der Klassenlehrer, der sich in die Sache nicht einmischen wollte, sagte kein Wort über Franzines auferlegte Strafe. Mit fast sechzehn Jahren musste sie mit dem Aussehen eines Kleinkindes im Vorschulalter ihr Leben mit Hohn und Spott meistern. Ihr Körper zeigte die ersten Veränderungen auf, die Brustrundung war schon deutlich zu erkennen, ihre Hüften traten wohlgeformt mit darüber liegender Wespentaille in weibliche Erscheinung und verrieten eine schöne Gestalt dahinter. Ihre graziösen Bewegungen fielen dadurch in der männlichen Welt kaum auf. Seit drei Monaten hatte sich auch die erste Regelblutung eingestellt und es war nicht zu übersehen, dass sie fraulich und erwachsen unter dieser Fassade wirkte. Doch jeden Morgen musste sie die Prozedur des ewigen Haarebürstens und Flechtens in Kauf nehmen. Erst wenn ihre Volljährigkeit an ihrem 21. Geburtstag offiziell in Kraft tritt, dürfe sie die Haare kürzen oder nach ihrem Geschmack verändern. Bis dahin müsse sie ausharren solange sie noch zu Hause wohne und den unangenehmen Regeln Freyas Folge leisten. Da half auch kein Gebrüll, kein Aufstampfen, kein flehen, betteln, kein Bitten, selbst der schlimmste hysterische Ausbruch ließ ihre Mutter nicht erweichen. Auch die ausgesprochene Selbstmorddrohung ließ Freya kalt. Alle ihre Klassenkameradinnen trugen entweder einen Bubikopf oder frisierten ihre Haare halblang mit gedrehter Welle nach außen die ihr Gesicht vorteilhaft umrahmten. Toupierte Kurzhaarköpfe vermehrten sich zunehmend unter den jungen Frauen, manche Mädchen trugen noch einen Pferdeschwanz, oder sie bevorzugten die Haare einfach nur offen, hängend mit einem bunten Band zurückgehalten. Fast bildeten sie eine Modeschau in der Schule die in den Pausen wohl das Hauptthema der älteren Mädchen war. Enge Steghosen, Ballerinas und anliegende Pullis haben auch bei den jungen Menschen auf dem Land, Einzug in den Klassenzimmern gehalten. Franzine gab nach einer Weile vergeblichen Kämpfens auf und trug tapfer ihre altmodischen, verhassten Zöpfe bis zu ihren Freudentag der sich noch Jahre hinziehen sollte. Dorothea trug schon längst eine modische Kurzhaarfrisur, neidvoll musste Franzine mit ansehen als ihre Schwester glücklich und zufrieden mit dem Ergebnis vom hiesigen Frisör zurückkam. Auch dann kam kein Wort über ihre Lippen und verzog sich mit einem Buch in eine Ecke.

      Dorothea war nun weg, doch Franzine empfand keine Ruhe, der innere Frieden wollte sich nicht einstellen. Nagende Gewissensbisse bohrten sich in ihre Seele, doch sie verstand es geschickt, ihre Gefühle zu verbergen. Als Manuel geraume Zeit später den Ort über Nacht verließ, durchzog ein stechender Schmerz ihren Körper, es tat weh wissen zu müssen dass er nun fort war und ob er jemals wieder zurückkommen würde. Keine Anzeichen sprachen dafür. Er spukte noch immer in ihrem Kopf herum. Ihre heimlichen Gefühle, die sie nun in abgekühlter Form für ihn empfand,

      klangen langsam ab. Trotzdem sah sie in ihm noch ihren unsichtbaren Beschützer, der ständig neben ihr weilte und sie mit allen Mitteln verteidigte. Er hatte einen festen Platz in ihrer Fantasie eingenommen und stand ihr mit auferbauenden Ratschlägen stets zur Seite. Oft war ihre Einbildungskraft so wirklich, dass sie, wie durch Selbsthypnose, neuen Mut und Kraft schöpfte. Manuel; Ihr ganzes Leben wollte sie ihm schenken, nie wird sie ihn je vergessen können. Doch nach und nach wurde sein Bild blasser, die schöne, männliche Gestalt die ständig neben ihr lebte, schien sich langsam aufzulösen. Oft vertieft in Selbstgesprächen wenn sie sich alleine glaubte, vertrieb sie sich die einsamen Stunden. Die Angst, jemand könnte sie wahrnehmen und mithören wenn sie zu sich selbst redete, ließen sie umsichtig werden. Nicht auszudenken wenn ihre Mutter dies einmal sehe, der Boden solle sie auf der Stelle verschlucken, die Scham könnte nicht größer sein. Und bestimmt wissen es die Nachbarn und Schulfreundinnen schon in der nächsten Stunde, dann wäre die Schmach perfekt, das Haus könne sie dann nie wieder verlassen. Darauf wollte sie es lieber nicht ankommen lassen, dann versuchte sie sich zurückzuhalten, sprach immer weniger und antwortete nur auf Fragen die ihr ihre Mutter stellte. Freya glaubte gerecht zu handeln und dachte auch keine Sekunde über Franzines psychischen Zustand nach. Doch Franzine begriff, dass sie einiges an Gunst bei ihrer Mutter eingebüßt hatte. Trotzdem genoss sie einiges an Freiheiten die ihr Freya durchaus erlaubte. Wenn ihre Leistungen in der Schule zufrieden stellend waren, oder wenn sie ihre Pflicht im Haushalt gewissenhaft verrichtet hatte, durfte sie an Veranstaltungen, die es oft Sonntags in einem Cafe oder Gaststätte gab, zum Tanzen, oder, wenn es im Kino einen Film spielte der sie interessierte, bekam sie zu ihrer großen Freude den ersehnten Ausgang. Trotz gesunkenen Selbstwertgefühls und verabscheuungswürdiger Frisur, freute sie sich auf die Abwechslungen an den Sonntagen die ihr Leben wieder etwas aufhellten. Franzine war ja noch Schülerin, vielleicht rette sie dadurch ihre Ehre. Nach endlosen