Anita Florian

Die Ungeliebten


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Eltern und zog sich um.

      „Das wird eine grausame Nacht werden“, schluchzte Annelie“, „ich werde ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Instinktiv wollte Franzine den Kopf schütteln, unterließ es aber und sagte stattdessen: „Das wird ihm gefallen, bei dir fühlt er sich geborgen, er weiß, dass du ihn sehr lieb hast.“ Fast war sie überrascht von ihren eben gesprochenen Worten, denn ihr Verstand sagte ihr, dass dies genau in die falsche Richtung führte.

      Ferry kam aus dem Zimmer und überreichte Annelie seine Raulederjacke.

      „Zieh das an, es wird frostig werden bei den Gegenwind.“

      Wortlos streifte sie die Jacke über, umarmte Franzine und Senta, verabschiedete sich dankend und ging mit Ferry nach unten.

      „Du weißt was mit Thorsten los ist, nicht wahr, du hast es schon längst bemerkt“, fragte Senta mit einem Anflug von Scham.

      „Nein, ich weiß es nicht, er kam mir nur sonderbar still vor und etwas abweisend, aber nicht dumm, falls du das meinst.“ Sie hoffte, dass sie das Richtige gesagt hatte.

      „Er ist völlig zurückgeblieben, es gibt fast keine geistige Entwicklung bei ihm, aber Annelie merkt es nicht, verhätschelt den Jungen als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Wir lassen sie in dem Glauben, dass sie das Richtige tut.“

      Und somit wird ihm jede Hilfe verweigert, dachte Franzine und hielt es für besser, Senta Recht zu geben. Vielleicht findet sie in naher Zukunft den richtigen Zeitpunkt, einen möglichen Zugang in Annelie’s Seele, der es ihr ermöglicht, die ganze Situation objektiver zu betrachten, sie aufzurütteln und ihr zu verstehen geben, welche Möglichkeiten ihrem Sohn zur Verfügung stehen.

      Als sie später zusammen im Bett lagen, fiel Franzine Ferrys Unruhe auf. Er konnte sich kaum beruhigen, bewegte die Beine ständig unter der Decke und atmete schnell.

      „Kannst du keine Ruhe finden Schatz, was hast du?“ fragte sie zögernd und drehte sich zu ihm hin.

      „Ich habe noch niemals so eine dumme Kuh wie meine Schwägerin gesehen“, gestand er ihr mit aufkommenden Zorn, „schon als Pepp sie zum Ersten Mal zu uns nach Hause mitbrachte, konnte ich ihre Einfälltigkeit kaum ertragen. Nun, mein Bruder ist auch nicht gerade der Hellste, aber das hätte ich nicht von ihm erwartet.“ Er lag nun auf den Rücken, die Hände über den Kopf verschränkt und starrte zur Decke empor.

      „Du solltest nicht so von deinen Verwandten sprechen“, sagte Franzine erschrocken, „ich finde beide sehr nett und dein Bruder malt wundervolle Bilder, ich habe sie gesehen, sie sind einmalig.“

      „Das ist auch das einzige Talent was er besitzt, nicht mal verkaufen kann er seine – ja ich muss zugeben – wohl gut gelungenen Ölgemälde, lieber verschenkt er sie...ich kann ihn diesbezüglich nicht verstehen, er könnte doch verdienen dabei.“

      „Man müsste ihn mal aufmerksam machen das darin viel Arbeit steckt, auch das Material ist nicht gerade billig stelle ich mir vor, ich werde einmal mit ihm reden, vielleicht kann ich was erreichen bei ihm, und bei Annelie auch.“

      „Sagenhaft, wie diese Frau beinander ist, hattest du schon Gelegenheit Fotos von Thorsten als Kleinkind zu sehen? Als Einjähriger, Zweijähriger oder Dreijähriger, sie weisen nur eines auf: Das Kind hat bei jedem Bild den Mund offen, so als ob er seine Sinne nicht beisammen hätte, ob zusammen mit den Eltern oder alleine, die Kinnlade ist stets nach unten geklappt, er lacht auch nie, er setzt einen Blick auf, als ob er in die weite Ferne sehen würde, aber der Mund ist immer einen Spalt offen.“

      „Nein, ich habe noch keine Bilder von ihm gesehen“, meinte Franzine und spürte Ferrys warme Hand an ihrem leicht gewölbten Bauch.

      „Unser Kleines, es wird bestimmt ein Junge, er wird froh und lebenslustig auf die Welt kommen, wissbegierig alles in sich aufsaugen und sicher ein guter Sportler werden. Natürlich das gescheiteste Kind in seiner Klasse, das spüre ich jetzt schon.“ Frohgemut schweiften ihre Gedanken in die Zukunft, ein glückliches Familienleben mit mindestens zwei Kindern, schwebte farbenfroh vor ihrem geistigen Auge, mit allerlei Haustieren und vielleicht sogar einen eigenen Weinkeller.

      „Manuel, ein wunderschöner Name für einen Jungen, meinst du nicht?“ Da war es wieder, sein Bild, nur kurz, von ihrer ersten großen Liebe, die sie nie erfahren durfte.

      „Bernadette“, sagte Ferry plötzlich, „unsere Tochter wird den Namen Bernadette tragen, nach Bernadette Soubirous, nach dem Mädchen, die mehrere Male die Wunder erlebte, dass ihr die heilige Maria, die Mutter Gottes, erschienen ist. Sie muss ein göttliches Geschöpf gewesen sein, meine Bewunderung für sie kennt keine Grenzen.“

      Franzines Lächeln erstarrte, damit hatte sie nicht gerechnet, hielt es aber für das Beste, nichts darauf zu erwidern.

      „Gute Nacht“, sagte sie leise, „schlafen wir lieber, ich höre Tanno schon schnarchen,…arme Senta.“

      „Schlaf schön, wir sehen uns morgen wieder…in die Augen“, sagte Ferry, drehte sich auf die andere Seite und war in wenigen Minuten eingeschlafen.

      Die Einfachheit dieser armen französischen Müllerstochter faszinierte Ferry, nicht oft redete er von ihr, doch Franzine wusste, dass sie ungebrochenen Einfluss auf ihn ausübte. Genauso wie bei Pater Pio, den er nicht wieder erwähnte, schien es fast, als sei sein Mut gebrochen. So tat sich ein neuer Ausweg auf, wo er, wie Franzine vermutete, Hoffnung auf Heilung seiner Mutter entgegensah. Das Heilwasser von Lourdes, wo Bernadette die Visionen empfangen hatte, würde seiner Mutter das Asthmaleiden wie durch Zauberhand verschwinden lassen. Und sie behielt Recht mit ihrer Annahme.

      Kapitel 4

      Am 3. Mai 1964 wurde Franzine von einem kerngesunden, 53 cm großen und 3,80 kg schweren Mädchen im Breicker Krankenhaus, Gynäkologische Abteilung für Geburten und Frauenheilkunde, entbunden. Die Geburt verlief ohne Komplikationen, Mutter und Tochter bestens wohlauf, bereits nach zwei Stunden konnte die Mutter vom Bett erheben und einige Runden im Krankenhausflur zurücklegen. Das kleine Mädchen entwickelte gesunden Appetit und schrie am lautesten im Babyzimmer, wo zehn muntere Säuglinge das Debüt ihrer kräftigen Stimme preisgaben. Der Vater, Ferdinand Tennenbach, außer sich vor Freude, überschüttete seine Frau mit Blumen und Bonbonaire. Stolz leuchteten seine blauen Augen in die Runde, als er sein Töchterchen präsentierte und sämtliches Krankenhauspersonal an sich riss und umarmte.

      Annelie weinte vor Rührung und Glück, beschenkte Franzine mit Babysachen für Mädchen, die sie selbst in ihrer Schulzeit angefertigt und stets sorgfältig gehütet hatte. Pepp erklärte sich bereit, ein Porträt ihrer kleinen Tochter zu malen, einen passenden Rahmen auszusuchen und es ihr dann überreichen. Senta konnte kaum atmen vor Aufregung, sie hatte eine kleine Puppe, die noch verpackt, in einer mit rosa Taft ausgeschlagenen Schachtel und fröhlich herausblinzelte, mitgebracht. Lächelnd überreichte sie das Geschenk Franzine, die frohgemut die Augenbrauen hochzog und es freudig entgegennahm. Tanno versprach, ihr das schönste Spielzeug aus Holz zu schnitzen, bewegliche Figuren, wo sie sich spielerisch ohne Gefahren zuwenden konnte. Freya ließ ein nagelneues Gitterbettchen liefern, dass in diesem Augenblick zusammengeschraubt und bei den Tennenbachs aufgestellt wurde.

      Franzine, die nach einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen wurde, strahlte ihren Mann Ferry und den freundlichen blonden Busfahrer an, der sie beglückwünschte und sanft seine Fahrt begann. Das Baby quietschte fröhlich im Körbchen das mit rosa Stoff ausgepolstert war. Sämtliche Fahrgäste beugten sich zu ihr runter und schnippten mit den Fingern und lachten, sie beglückwünschten die junge Mutter, die, wie sie meinten, noch selbst ein halbes Kind sein musste. Ferry, voller Stolz und Vaterglück, nickte lächelnd in die Runde.

      Drei Wochen später wurde das Kind auf den Namen Bernadette in der örtlichen katholischen Kirche getauft. Franzine, die schweigend das Taufritual geschehen ließ, war den Tränen nahe als sie das Wasser über das Köpfchen ihrer Tochter fließen sah, den Priester völlig aus ihren Augenwinkeln ausblendete und fast in Panik geriet. Sie konnte sich kaum beherrschen als das Baby laut zu brüllen