Nicole Heuer-Warmbold

nur Tod und Verderben


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in seine Arme, küsste sie wild. Überaus leidenschaftlich. Was Ron, denn natürlich war es der Gardist Ron, der umgekehrt war – die Soldaten konnten noch nicht einmal den Rand des Dorfes erreicht haben –, leise zu ihr sagte, verstand Bahadir allerdings nicht, wollte er auch gar nicht wissen. Es war Sache der beiden und ging ihn nichts an.

      Trauer und die Ahnung einer fürchterlichen Tragödie überfielen ihn, als Ron wieder sein Pferd bestieg und endgültig aufbrach; Bahadir schüttelte abwehrend den Kopf und wich Liz’ Blick aus, mit dem er in die Wirtsstube zu ihrem kargen Frühstück zurückkehrte.

      Bahadir setzte sich für sich allein, er wollte jetzt keine Gesellschaft, keine zwanglose Unterhaltung, gar lockere, unverbindliche Gespräche. Wollte für sich sein, gründlich über die Geschehnisse der letzten Tage nachdenken, sich dieser gewaltsamen, erschreckenden Erfahrungen erinnern. Beten.

      Was hatte er hier verloren? Er gehörte nicht in dieses kalte Land, er war kein Krieger, genau wie Ron gesagt hatte. Der Hüter des Schwertes, bloß erweckte Mara nicht den Eindruck, als würde sie Beistand benötigen. Ganz sicher nicht seinen Beistand, seine Hilfe. Er war ihr doch nur eine Last, hinderlich wie ein Klotz am Bein, unnötiges Gepäck. Nur manchmal, selten, sehr selten, sagte ihr Blick etwas anderes, als suche sie Trost? Zustimmung? Oder machte er sich selbst etwas vor?

      Erstaunt, fast ein wenig beunruhigt sah er, wie Mara in seine Richtung kam, eine Schüssel Haferbrei und einen Becher Tee in Händen, und sich ihm gegenüber an den Tisch setzte, ihn forschend musterte. „Bereut Ihr es?“

      Er versuchte ein Lächeln. „Auf einige Erfahrungen hätte ich womöglich gern verzichtet, aber … Nein, ich bereue es nicht. Ich bereue nicht, meine Heimat verlassen zu haben und nach Mandura gekommen zu sein. Und ich bedaure nicht, jetzt mit Euch gekommen zu sein.“

      „Ich habe Euch keine Wahl gelassen.“

      Bahadir verzog das Gesicht. „Stimmt.“

      „Wisst Ihr, warum?“

      Unbeabsichtigt schüttelte er den Kopf, biss sich auf die Lippen. „Es … ist verwirrend, ich … Ihr braucht mich offenbar nicht, noch weniger als Liz-Rasul oder diesen Jungen, Janek.“

      Wieder musterte sie ihn eindringlich, sein Gesicht, und schob die leer gegessene Schüssel beiseite. „Der Krieg hat gerade erst begonnen, Bahadir.“

      Wie unter einem Hieb, als hätte sie ihm ihr Schwert in den Leib gestoßen, zuckte er zusammen, ächzte unterdrückt und krallte die Hände um die Tischkante. „Ich verstehe.“

      Sie fühlte, spürte jeden Tod. Wie hatte er das nur vergessen können? Und ein Großteil der Menschen, die ihr etwas bedeuteten, all ihre Männer waren auf dem Weg in die Schlacht. Er erwiderte den Druck ihrer kleinen, kalten Hand.

      * * *

      Er war allein, völlig auf sich gestellt. Niemand, der ihm helfen, der ihn retten würde, und er konnte sich auch von ihr keinerlei Beistand erhoffen. Es gab nur ihn. Aber er war am Leben, noch immer, nach Misshandlung und tagelanger Folter, trotz seiner zahlreichen Verletzungen, Verwundungen, verdammt, er würde jetzt doch nicht aufgeben!

      Einmal mehr wurde die Tür geöffnet. Er reagierte nicht, als der Soldat ihm ein Bündel hinwarf. „Anziehen.

      Es war Kleidung, dreckig, stinkend, nicht ganz Lumpen; eine fleckige Hose, ein ärmelloses Hemd, ein besserer Wischlappen, und eine zerrissene Jacke, die linke Seite steif vor Blut. Tatsächlich seine Uniformjacke, er lachte nicht, fragte sich nicht nach dem Grund, sondern zog die Sachen mühsam über, seine Schmerzen ignorierend. Keine Schuhe oder gar Stiefel, natürlich nicht. Schwankend stand er unter der Tür, gebeugt, und ließ sich die Hände auf dem Rücken fesseln. Der zweite Soldat beobachtete ihn argwöhnisch, dann packten beide seine Arme, zerrten ihn aus dem Keller, die Treppe hinauf, einen düsteren, engen Gang entlang und hinaus ans Tageslicht. Geblendet kniff er die Augen zusammen, atmete unwillkürlich schneller, alle Muskeln trotz der Schmerzen angespannt. Überall Soldaten, gerüstete Soldaten, soviel konnte er im grellen Licht ausmachen, Hektik, laute Rufe, Pferde wieherten. Es musste früher Morgen sein und die Soldaten kurz vorm Aufbruch. Seine Wächter wuchteten ihn auf ein Pferd, banden seine Füße unter dem Bauch des Tieres zusammen und legten eine Schlinge um seinen Hals, ein dritter Wächter befestigte den Strick am Sattel seines eigenen Pferdes. Niemand hatte ihm die Augen verbunden, entweder waren die Ostländer unvorsichtig oder sich ihrer Sache sehr sicher; er wusste, wo er war. Keine vier Tagesritte nördlich von Dalgena.

      Doch sie ritten nicht auf die Stadt zu, nach Süden, stattdessen in östliche Richtung. Direkt auf das Kitainagebirge zu. Keiner der Soldaten in seiner näheren Umgebung redete, weder untereinander noch mit ihm, und eine gespannte Armbrust war beständig auf ihn gerichtet. Viel Aufwand, um ihn hinzurichten, zu viel Aufwand, sie hätten ihn in dem Loch verrotten lassen können. Er sollte die Situation ausnutzen, er hatte Kleidung, ein Pferd, er sollte…

      „Ihr hättet keine Chance, Hiron.“ Gelassen lenkte Barreck sein Pferd näher, musterte ihn kalt. „Der Mann hat Befehl, sofort zu schießen, wenn ihr Euch nur falsch bewegt.

      „Was habt Ihr vor, Barreck?

      „Ganz allgemein? Das Land erobern. Dalgena haben wir schon, es war enttäuschend einfach.“ Barreck lachte leise. „Ich hörte, Eure Schwester lebt in der Stadt.

      Er ballte die tauben Fäuste. „Sie ist raus. Es geht ihr gut.

      „Das freut mich, zumal … Glaubt Ihr denn, Samala Elis ist sicher? Wir werden auch Eure Hauptstadt erobern, Hiron, jede Stadt, jedes Dorf, jede Ansammlung von Hütten. Bald gibt es in Mandura keinen sicheren Platz mehr, nicht für Eure Schwester, nicht für Euer Mädchen, keine Frau, denn bald, schon sehr bald gehört das Land uns. Ihr werdet es erleben, Hiron.

      „Nein.“ Er knirschte mit den Zähnen, sie schmerzten, schmeckte Blut.

      „Nein?“ Wieder dieses Lachen. „Oh doch, Hiron. Um Eure Frage zu beantworten, er will Euch sehen.

      Wer? Und warum? Er stellte die Fragen nicht, wusste, er würde keine Antwort bekommen, nicht auf diese Fragen. „Was ist mit meinen Männern?

      „Mit Euren … Glaubt Ihr etwa, von denen würde noch einer leben? Sie sind tot.

      Tot, alle tot. Und er war verantwortlich. Schon bald hatte der eisige Regen ihn durchnässt, er fror erbärmlich, zitterte unkontrolliert. Seine Schuld.

      Gegen Abend änderten sie die Richtung, bogen nach Nordosten, dann Norden ab, ritten parallel zur großen Südstraße, wenn auch nicht auf der Straße selbst. Es war ihm gleichgültig.

      * * *

      Dieser kleine, kahlköpfige alte Mann, Fabro, war Mara gegenüber mehr als höflich gewesen, fast untertänig, als er sie verabschiedete. Liz hatte nicht mitgezählt, wie oft der Mann sich vor ihr verbeugt hatte. Mara hatte kaum auf ihn geachtet, war in Gedanken bereits ganz woanders.

      Das Wetter blieb kalt und nass, es regnete ununterbrochen. Liz begann sich zu fragen, wie lange die Leute den Marsch noch durchhalten würden, denn für die meisten war es ein Fußmarsch; viele hatten Husten, manche auch Fieber, die Tiere waren ebenso erschöpft wie die Menschen. Eine elende Quälerei bei dem nassen, tiefen Boden. Nur vereinzelt waren noch Flecken von Schnee zu sehen.

      Und Mara … Erst nachdem er sie das dritte Mal angesprochen hatte, reagierte sie und wandte ihm das blasse Gesicht zu, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. „Kann ich Euch helfen, Mara?“

      „Ich wüsste nicht, wie Ihr mir helfen könntet. Womit?“

      „Ich weiß auch nicht genau, nur … Haltet Ihr die ganze Zeit Kontakt?“

      „Mit wem, Sakar?“

      Er nickte zögernd, auch wenn er seinen Kollegen, ihren Vater, nicht meinte. Nicht in erster Linie. „Zum Beispiel.“

      „Nein, nur kurz am Abend und am Morgen. Meister Sakar glaubt, sie seien übermorgen wohl am Ziel, er …