E.R. Greulich

Die Verbannten von Neukaledonien


Скачать книгу

verbringe ich bereits sechs Monate in einem mittelalterlichen Kerker. Mein Verbringungsort ist die sonnige Halbinsel Ducos. Über diese feuchten Kasematten inmitten von Meer und grauem Nebel steht nichts in meinem Urteilsspruch.“

      "Sie wünschen die wohlwollend gewährte Gelegenheit für ein Gnadengesuch umzuändern in eine Beschwerdestunde. Grousset?" Pinoy fragte es giftig.

      "So kurz vor der Abreise sähe ich wenig Sinn in einer Beschwerde, Herr Direktor. Meine Bemerkung war mehr philosophischer Art und bezog sich auf das Problem Urteil und Ausführung."

      "Scheren Sie sich zum, Teufel, Sie - Sie Philosoph!" Er brüllte es derart, dass ich zusammenzuckte. '"Ihr werdet das bereuen, ihr Hanswürste mit der Tapferkeitsmarotte! Dörrt nur erst in der südlichen Sonne wie ausgenommene Klippfische! - Raus!"

      Unsanft packten mich die zwei Wachsoldaten; als sie das Gitterviereck aufgeschlossen hatten, vergaß keiner von beiden, mich mit einem Tritt zu bedenken. Über Pinoys Ärger mit der Gnadenkampagne seiner Regierung geriet die Geschichte mit meiner angeblichen Ehefrau in Vergessenheit. Ich hatte schon mehrere Briefe an Manon geschrieben, war aber bisher ohne Antwort geblieben. Als mich dann unerwartet jener Brief von Manon erreichte, fragte ich mich, wie sie meinen Aufenthalt erkundet haben mochte. Später erfuhr ich, dass sie in den Zeitungen von vier Gefangenendepots gelesen hatte, die auf den Reeden von Brest und Les Trousses eingerichtet seien, nämlich im Schloss von Oleron, in der Zitadelle des Saint-Martin-de-Re, im Fort Quelern und im Fort Boyard. Von den drei vorgenannten hatte Manon ihren Brief an mich zurückbekommen, also adressierte sie ihn nun nach Fort Boyard. Ich antwortete sofort, aber diesen Brief hat sie wohl nie erhalten.

      Die Mitteilung von unsrer baldigen Abreise war ein fauler Trick gewesen, um uns für die Gnadengesuche zugänglicher zu machen. Als wir endlich, auf Tauglichkeit für die Überfahrt geprüft wurden, lag bereits ein Jahr in den Käfigen hinter uns.

      Die sogenannte Tauglichkeitsuntersuchung ähnelte den bekannten Komödien mit Militärärzten, nur geschah sie hurtiger. Der Gemütsmensch, Marinearzt Dr. Chanal, legte nur einmal kurz das Ohr an die Brust jeden Mannes, um dann dem Schriftführer zuzurufen: "Gut zur Abreise!" Während dieser Prozedur hatte er sogar noch Zeit, jeden zu fragen, ob er selbst sich auch tauglich fühle: Verneinte jemand, erfolgte der besagte Ruf des Dr. Eisenbart um so sicherer. Uns verging das Lachen, als Dr. Chanal den Kameraden Corcelles ebenfalls auf diese Art behandelte. Corcelles litt an Schwindsucht und vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten, er war von uns zur Untersuchung getragen worden. Ein jüngerer Arzt der Kommission bekam Mitleid und flüsterte mit Dr. Chanal, um einen Reiseaufschub zu bewirken. Der wurde unwirsch: "Ach was, die Haifische müssen auch was zu fressen kriegen!" Drei Wochen später ging der Wunsch des Haifischfreundes in Erfüllung. Corcelles starb und fand sein Grab im Meer.

      Eine Seefahrt stellt sich in Volksliedern und Gassenhauern meist als amüsant dar. Wir wurden sehr bald gegenteilig belehrt. Wenigstens kamen wir nicht aus der Gewohnheit, zwischen Gittern hausen zu müssen. In den sogenannten Batterien, dem Zwischendeck der Fregatte 'Danae' befanden sich vier eiserne Riesenkäfige für je hundertfünfundsiebzig Mann. Unser Reisegepäck bestand aus einem kleinen Leinwandsack mit abgetragenen Kleidungsstücken und einer Hängematte, die nur nachts aufgehängt werden durfte. Wir hingen so dicht wie Fliegende Hunde auf Affenbrotbäumen, und je heftiger die Schiffsbewegungen waren, desto heftiger stieß man gegen die Körper seiner Nebenmänner. Das Essen war karg, aber gut gesalzen, das Trinkwasser so rar wie das Waschwasser, am rarsten war frische Luft. Die durften wir täglich eine halbe Stunde genießen, und das enge Plateau des Forts Boyard wuchs in der Erinnerung zum riesigen Tummelplatz. Denn jetzt war kein Gedanke mehr an Spaziergang. Wenn es regnete, hielten wir die weitgeöffneten Münder dem kühlen Nass entgegen, es war wie ein Trost des Himmels.

      Vor der Abreise hatte man uns Briefpapier ausgehändigt und versprochen, die Briefe noch von Fort Boyard abzusenden. Als wir in Brest die Fährboote verlassen hatten und durch das Hafengelände marschierten, steckten die Briefe noch immer in unsern Taschen. An Gruppen von Hafenarbeitern wurden wir vorbeigetrieben, ihre Gesichter drückten keine Sympathien für unsere Wächter aus. Ich knüllte den Brief an Manon und ließ ihn dem Arbeiter, eines Entladungstrupps vor die Füße rollen, dessen Augen hasserfüllt auf unsere Bewacher blickten. Der mit dem aufgepflanzten Bajonett neben mir hatte etwas bemerkt, doch der Schauermann setzte derart herausfordernd seine Sohle auf das Papierknäuel, dass der Scherge es für geraten hielt, nichts gesehen zu haben.

      Beim Verlassen von Fort Boyard hatten wir geglaubt, das Schlimmste sei nun vorüber, doch auf dem Schiff begruben wir diese Illusion. Der Lieblingssport des Kommandanten der 'Danae', des Kapitäns zur See Rion de Kerprigent, bestand darin, jeden Tag einige der schwächsten Gefangenen zu schwerster Schiffsarbeit zu kommandieren. Da nichts von Zwangsarbeit in unseren Urteilen stand, weigerten sich eines Tages die Kameraden Malzieux, Bauer und Cipriani, der Aufforderung des Kapitäns Folge zu leisten. Er ließ sie im untersten Schiffsraum in Eisen legen. Erst bei unserer Ankunft, nach vierundzwanzig Tagen, sahen sie das Sonnenlicht wieder. Sie hatten gelebt von brackigem Wasser und, Schiffszwieback, Malzieux war achtundsechzig Jahre alt.

      Wir hatten den Dreien abgeraten, auf diese Art Widerstand zu üben, doch für sie stand die Menschenwürde höher als unsere pragmatischen Überlegungen, und da sie nun in der Backofenhitze des Schiffsbauchs schmachteten, litten wir mit ihnen. Es wurden Pläne geschmiedet, sie zu befreien. Wir hätten dazu das Schiff in unsere Gewalt bringen müssen. Keiner von uns scheute ein Risiko, wir wussten auch, dass es hundertprozentige Sicherheit für das Gelingen einer Überrumpelung nicht gibt. Mit der Sensibilität des grausamen Feiglings spürte de Kerprigent, was unter uns vorging. Er bemühte sich ins Zwischendeck und erklärte: Immer wenn die Insassen eines Käfigs an Deck seien, werde er die drei andern Käfige mit Wachsoldaten umstellen lassen. Falls auf Deck der Versuch einer Meuterei beginne, würde er Schnellfeuer auf die vollen Käfige befehlen.

      Der Sadist hatte uns unsere Grenzen gezeigt, dementsprechend war die Stimmung. Aber mehr oder weniger hielt die Hoffnung auf 'das gelobte Land' alle aufrecht. Bei der Ankunft im Hafen von Nouméa gingen 689 Deportierte von Bord, 'nur' 11 waren an den Strapazen der 157tägigen Seereise gestorben. Allerdings hatten nur wenige die Fahrt heil überstanden. Fast alle litten an Asthma, Herz- und Magenkrankheiten, an Rheumatismus und Skorbut. Beim Wort Skorbut muss ich an jenes 'Dementi' der Thiers-Regierung denken, das lautete: "Die Nachrichten, welche von der englischen Presse über die Überfahrt der 'Orne' mitgeteilt wurden, sind in allen Punkten ungenau, denn weit entfernt davon, 400 Skorbutkranke zu haben, zählte dieses Schiff derer kaum 170."

      Bei der Ankunft auf der Reede von Nouméa hatte ich das Glück, zu denen zu gehören, die sich eben auf Deck befanden. In langer Krümmung streckt sich die Halbinsel Ducos ins Meer und bildet so eine natürliche Hafenbucht für die Hauptstadt Nouméa. Eine schmale flache Landenge verbindet die Halbinsel Ducos mit Neukaledonien. Selbst ein Laie erkennt die militärstrategischen und schifffahrtstechnischen Vorteile dieses französischen Vorpostens in den australischen Gewässern. Jedem Experten des Strafvollzugs musste Ducos als Verbannungsort ideal vorkommen. Deutlich sah man den Unterschied in der Vegetation. Die Küste Neukaledoniens bis an Nouméa heran erinnerte in ihren vielen Grüntönen an einen botanischen Garten. Dagegen wirkte Ducos trist. Das Braungrau vulkanischen Gesteins war dominierender Farbton des etwa hundertfünfzig Meter hohen Höhenzugs. Quer dazu erhoben sich kleinere langgestreckte Hügel, getrennt durch Regenwassereinschnitte, weiter unten waren sie mit grüngelbem Gras bewachsen, und von dort fiel das Land sanft ab bis zum Meer. Die Regenwasserschluchten verbreiterten sich zum Strand hin und bildeten sumpfige Oasen, bestanden mit Schilf- und Binsengewächsen, wogegen am Rand Sumpfbäume wuchsen. Außer den kargen Baum- und Buschgruppen entlang des Strandes waren weiter hinauf kleine Gehölze und auch einzeln stehende Niaoulibäume zu erkennen, jene weißstämmige und wohl bekannteste Art Eukalyptusbäume.

      Nachdem wir ausgeschifft waren, wurden wir ins Lager getrieben. Die Behausungen am Hang waren zur einen Hälfte ausrangierte Militärzelte für je zwölf Mann, zur andern Hälfte Bretterbaracken. Nach dem Gesetz durfte ein Deportierter sich die Wohnung selbst bauen. Da er aber weder Handwerkszeug noch Material bekam, brauchte es überdurchschnittlicher Geschicklichkeit und Erfindungsgabe, wollte er trotzdem nicht auf ein "eigenes Heim" verzichten. Ein Deportierter, durfte auch, entsprechend dem Gesetz, nach fünf Jahren Ducos verlassen und