E.R. Greulich

Die Verbannten von Neukaledonien


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häufig zu lesen: Manon. Bei meiner Verurteilung stand sie in Gedanken neben mir und flüsterte beschwörend: Kein Trauern über tote Zeit! Nutze sie, deine Flucht zu betreiben. Für immer ohne dich, Paschal, kann ich nicht leben.

      Ich, ein Mann von siebenunddreißig, balle nachts manchmal die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Durch Manon wurde mir schmerzhaft bewusst - und die Einsamkeiten während der Verbannung vertieften das Gefühl: die Erde wäre ein toter Planet, gäbe es die Liebe nicht.

      Weil ich die höchsten Höhen erleben durfte, fluche ich denen, die uns trennten, und denke manchmal, was wäre mir erspart geblieben, wäre auch ich an der Mauer der Föderierten erschossen oder mit den Kameraden in der Ebene von Satory umgebracht worden. Auf die Barrikade zu gehen ist tapfer, wie viel Tapferkeit aber gehört dazu, eine Niederlage durchzustehen? Nur Hoffnung auf Vergeltung hält die meisten deportierten Kommunarden in Neukaledonien aufrecht. Unser Herz gehört dem vergewaltigten Paris, dem betrogenen Frankreich, wer uns aus dem Mutterboden riss und über zehntausend Meilen weit hinter die Wasserwüste des Stillen Ozeans fortschaffen ließ, wie groß muss dessen Furcht vor uns sein. Die kleinen Wachsoldaten und Beamten der korrupten Verwaltung verachten wir, unser Hass gilt den Schlächtern in Uniform und Zivil. Sage niemand, aus mir spreche nur die Verbitterung des Geschlagenen. Wir sind historisch im Recht, also auch moralisch. Der Fortschritt wäre keine ethische Kategorie, gäbe es nicht den ständigen Kampf der Fortschrittlichen gegen das Gestern. Die Gewalt des Gestern schlägt zu, wenn aus dem Traum Wirklichkeit zu werden droht.

      Kaum glaublich, dass ich den Versailler Söldnern in Paris selbst entkommen konnte, bald darauf aber dennoch zum Heer ihrer Gefangenen gehörte. Vierzigtausend Verhaftete, soll man sie erschießen oder amnestieren? Beides wurde von seriösen Zeitungen vorgeschlagen. Die Regierung, ständig assistiert von ihrer servilen Nationalversammlung, wählte für einen Teil der Gefangenen den goldenen Mittelweg: langsamer Tod vermittels Deportation. Über hundert höhere Offiziere erhielten den Auftrag, achtzehn Kriegsgerichte zu bilden. Die Versailler Kriegsgerichte brachten Tausenden das Schaudern bei. Exakt funktionierten sie, eine zuverlässige Maschinerie, bis der letzte Angeklagte verurteilt war. Deportation, angedroht als Strafe für den "Angriff auf die Regierung", wurde zum Synonym für Trostlosigkeit. Für einfache Deportation hatte man die Ile de Pins ausersehen, die Halbinsel Ducos für Deportation nach einem befestigten Platz. Insel wie Halbinsel gehören zum französischen Kolonialbesitz Neukaledonien, für den nun auffällig die Trommel gerührt wurde. In offiziellen und offiziösen Publikationen hieß es, die Deportierten würden ein reiches Land betreten, in relativer Freiheit leben, lohnende Arbeit bekommen, sie könnten dort Wohlstand und Glück finden. Sofern sie es wünschten, würde man ihre Familien auf Staatskosten nach Neukaledonien schaffen; falls sie noch ledig seien, würden sie bei der Familiengründung unterstützt. Der parlamentarische Berichterstatter zum Gesetz über den Vollzug der Deportationen, Monsieur de Haussouville, begrüßte vor der Versailler Nationalversammlung in dieser Zwangsauswanderung die Anfänge eines neuen französischen Reiches an den Gestaden des Stillen Ozeans.

      Verurteilt zur Deportation nach einem befestigten Platz - der Halbinsel Ducos -, wurden wir in Viehwaggons gepfercht und kamen nach tagelanger, qualvoller Eisenbahnfahrt in Brest an. Von dort brachte man uns zum Fort Boyard, einem Turmbau, der, auf einer Sandbank errichtet, nur bei Flut mit Booten zu erreichen ist und schon lange ohne Besatzung war. Wir gehörten zum ersten Transport und kamen an einem kalten Oktobertag an, mit uns der Gefängnisdirektor und die kleine Garnison der Wachsoldaten. Zu Trupps von je zehn Mann trieb man uns in die Kasematten. Es gab keine Schlafgestelle, keine Matratzen, nicht einmal etwas Stroh für unsere maladen Körper. Lediglich alte, verrostete Kanonen standen herum. Weder lässt es sich auf einem Kanonenrohr schlafen, noch vermag man damit Suppe zu löffeln, die uns in einem Trog gebracht wurde. Wir weigerten uns, wie die Schweine zu essen, und hungerten bei unserer kargen Ration Schiffszwieback. Nach zehn Tagen zahlte sich unsere Beharrlichkeit aus. Der Gefängnisdirektor hatte in Versailles angefragt und die Erlaubnis erhalten, uns Löffel auszuhändigen, da dieselben nicht als Waffen zu betrachten seien.

      Alle eingehende Post war selbstverständlich geöffnet. Nur einmal jeden Monat war es gestattet, einen Brief an Familienangehörige zu schreiben. Unsere Korrespondenz wurde zensiert und nicht selten zurückgehalten. Doch jeder Brief, der endlich zu uns gelangte, bedeutete Wärme und Licht im kalten Kerker. Wir litten unter der Kälte noch mehr als unter der Enge. Die Abteilungen in den Gitterkäfigen der Kasematten waren samt und sonders überbelegt, heftig ersehnten wir jeden Tag die halbe Stunde frische Luft, und die Beine vertreten auf dem Plateau des Forts, obwohl es auch dort so eng war, dass wir im Kreisgang dicht hintereinander laufen mussten. Nach drei Monaten bekamen wir Matratzen, die meisten von uns litten inzwischen an Rheuma. Wieder nach drei Monaten, im März zweiundsiebzig, erfuhren wir von unserer baldigen Abreise und dass jeder ein Gnadengesuch einreichen könne. Wir vereinbarten, diese Art Milde zu ignorieren. Nun wurde, aus dem Kann ein Muss. Jeder hatte einzeln vor dem Gefängnisdirektor zu erscheinen, um die persönlichen Gründe für sein Gnadengesuch darzulegen, dass dann von der Versailler Gnadenkommission geprüft werden sollte. Was wir vermutet hatten, erwies sich als wahr. Es handelte sich um ein neues Manöver, ausgeheckt für die Öffentlichkeit: Seht, wir haben sogar eine Kommission eingesetzt, die jede Bitte um Gnade prüfen wird! Gerechter geht es nicht!

      Als ich zum Gefängnisdirektor Pinoy gerufen wurde, war ich entschlossen, mich nicht provozieren zu lassen. Dann stand ich in seiner Kanzlei, und es fiel mir schwer, zu begreifen, dass dieser joviale, ja fast leutselige Monsieur derselbe war, der seit einem halben Jahr versuchte, uns durch tausenderlei Schikanen seelisch und körperlich zu zermürben.

      Mit freundlicher Geste wies er auf einen Stuhl, ein Stück von seinem Schreibtisch entfernt und zündete sich gelassen eine Brasil an. "Nun, Grousset, Sie haben sicherlich schon über Gründe für Ihr Gnadengesuch nachgedacht?"

      Ich verneinte.

      Pinoy legte ein Blatt Papier bereit und tunkte die Feder ins Tintenfass. „Wir werden es also nachholen."

      "Ich denke, es wird nicht nötig sein, Herr Direktor."

      Er tat, als habe er nicht gehört, sprach halblaut meine Personalien vor sich hin und schrieb sie auf das Blatt. Er hat deine Akte aufmerksam studiert, dachte ich und ließ ihn gewähren. Bei dem Wort verheiratet sah er mich fragend an. Ich nickte und sagte: "Mit Manon Grousset, geborene Printemps." Ich musste lügen, denn nur weil sie sich als meine Ehefrau ausgegeben hatte, war mir vor kurzem Manons Brief ausgehändigt worden, der erste und einzige bis jetzt. Das kostet mindestens vierzehn Tage Dunkelarrest, befürchtete ich, als er fragte: "Weshalb hatten Sie bisher angegeben, Sie seien ledig?"

      Ich tat verlegen. "Es war mir peinlich, Herr Direktor. Sie wissen, ein Mann, dem die Frau weggelaufen ist, spielt eine klägliche Rolle. Inzwischen hat sie es sich überlegt und möchte wieder mit mir zusammenleben."

      „Großartig!" Pinoy begeisterte sich. "Triftiger Grund für ein Gnadengesuch."

      Er hatte den heftigen Wunsch, mit recht vielen Gnadengesuchen aufzuwarten, deshalb seine Samtpfötchen, und darum durchschaute er auch meine schwache Ausrede nicht, vielmehr, er wollte sie nicht durchschauen. Mir konnte es recht sein, denn das ließ mir die Hoffnung, auch fernerhin Briefe von Manon ausgehändigt zu erhalten. Es sei denn, Pinoy würde auf den Schwindel zurückkommen, falls ich festbliebe. Das aber musste ich. Ich war es mir schuldig, mir und den Kameraden, denn ich war einer von denen, die getrommelt hatten: Kein Gnadengesuch!

      Ich wiederholte meinen Satz. "Es wird nicht nötig sein."

      Pinoy schaute drein wie ein Kind, dem man gesagt hat, Weihnachten fällt aus. "Sie scherzen, Grousset. Sie behaupten doch nicht im Ernst, es sei unnötig, ein Gnadengesuch einzureichen. Erst recht nicht, wenn es Ihnen die Strafbehörde nahelegt."

      "Wenn ich schon um etwas bitten würde, Herr Direktor; dann um Gerechtigkeit."

      "Wann gab es je Sieger, die man ungestraft verleumden durfte, sie seien ungerecht?" Pinoy sagte es lächelnd, aber in seinem Blick war Heimtücke.

      „Ich bin auf keinen Streit darüber aus, Herr Direktor", sagte ich sanft, "das mir zudiktierte Strafmaß genügt mir vollauf."

      "Sie können es eventuell' mildern durch ein Gnadengesuch."

      "Ich