Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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vernahm noch ein Kichern von draußen, dann atmete sie tief durch, schnappte sich ihre ausgefüllten Listen und gab sie im Sekretariat ab. Anschließend schlenderte sie noch über den Hof, hörte Musik über ihren MP3 Player und wollte einfach nur den Kopf freibekommen, ehe sie zum Abendbrot musste. Jeder Tisch im Speisesaal hatte eine Nummer und so konnte sie ihren ganz leicht ausfindig machen.

      Obgleich sie zuletzt am Morgen etwas gegessen hatte, konnte sie nichts Essen. Ihr Magen fühlte sich eigenartig leer und doch viel zu voll an. Natürlich machte sie sich etwas auf ihren Teller drauf, damit sie nicht plötzlich mitten in der Nacht Hunger bekommen würde.

      »Bist du etwa auch eine von denen, die nie was essen?«, fragte sie ein Mädchen mit dem Namen Barbara, wie sie nebenbei erfahren hatte. Sie war ein stämmiges Mädchen, hatte aber selbst nur einen Salat und etwas Hühnchen auf dem Teller.

      »Nein, nein. Im Gegenteil. Aber ich war heute fast zehn Stunden unterwegs, Zugfahrt, Aufenthalt und so und irgendwie hab ich danach nie Appetit. Oder es liegt an der Luft hier. Frag meine Brüder, sie ziehen mich immer damit auf, dass ich zu viel esse«, erzählte Lydia nervös.

      »Wie viele Brüder hast du?«

      Da merkte Lydia plötzlich, dass sie im Plural redete. Es war eine Gewohnheitssache. »Hallo?«

      »Oh, entschuldige. Ja, also, das ist kompliziert. Eigentlich hab ich einen Zwillingsbruder und drei Stiefbrüder.« Sie lächelte, wobei ihr Lächeln eher krampfartig aussah.

      »So viele und du bist das einzige Mädchen?«

      »Ja, soweit ich weiß, ja, wobei mein Zwillingsbruder selbst eine Stiefschwester hat.«

      Barbara sah sie skeptisch an und war etwas verwirrt, musste dann aber doch lachen.

      »Welches Buch lest ihr eigentlich gerade in Literatur?«, fragte Lydia in die Runde, hauptsächlich um abzulenken.

      »Ach, was von Shakespeare, falls du den kennst.« Nun kam doch etwas der Ton eines Snobs hervor. Wer kennt William Shakespeare nicht?

      »Shakespeare? Super!«

      »Sag bloß, du liest so was?«, riefen fast alle aus.

      »Ja, könnte man sagen«, meinte die fünfzehnjährige.

      Alle am Tisch sahen sie entsetzt an.

      »Na, dann wirst du es ja nicht so schwer haben«, antwortete Barbara.

      »Kommt drauf an, was ihr genau liest.«

      »Hattest du das in der Schule?«, wurde sie gefragt.

      »‹Romeo und Julia‹ - aber da ging es eher um den Kinofilm mit Claire Danes und Leonardo DiCaprio.«

      Natürlich las Lydia so was. Sie liebte jegliche Art von Büchern - über Lyrik und Poesie, Krimi und Thriller, bis hin zu Liebesromanen und Romanen im Allgemeinen.

      Doch auch schon auf ihrer alten Schule war sie eine Außenseiterin, weil sie lieber las, als über Make – Up zu sprechen. Sie mochte dieses oberflächliche Getue nicht. Sie war lieber für sich, so vermied sie ärger.

      »Das ist Fräulein Lydia Schaf! Sie ist gestern erst hergekommen und wird von nun an hierbleiben.« Ihre Lehrerin stellte sie am Montagmorgen vor und gab ihr gleich alle Bücher, die sie noch lesen musste - zehn Stück waren es.

      »Danke.«

      »Sie haben einen sehr umfangreichen Stundenplan für nächstes Jahr gewählt.«

      »Ja, ich weiß noch nicht, was ich später studieren will, und dachte mir, das, was mich interessiert, wäre ein guter Anfang.«

      Sie lächelte, nahm die Lektüren und setzte sich.

      Ihr erster Schultag verging recht ereignislos.

      Sie bekam alle Bücher für die einzelnen Stunden und von jedem Lehrer eine Liste mit Aufgaben, die in der nächsten Arbeit dran kamen. Sie sortierte alles, machte sich Notizen und verbrachte so den ersten Schultag.

      Sie musste am Dienstag - ihrem Geburtstag - bereits drei Arbeiten mitschreiben. Das war aber nicht so schlimm, da sie ja im Grunde das gleiche Wissen wie ihre Mitschülerinnen besaß. Jedenfalls theoretisch. Trotzdem platzte ihr der Schädel, als sie an all die Formeln und Dinge dachte, die sie besprachen.

      Am Nachmittag wurden ein Päckchen und zwei Briefe überreicht.

      Sie bedankte sich und marschierte damit in ihr Zimmer. Julie war nicht da und so konnte sie in Ruhe alles begutachten.

      *

      Und während sie ihre Post durchsah, erhielten auch Stephen und Tom ihre Briefe von Lydia.

      Aufmerksam las ihn sich Steve durch. »Sie ist so unglaublich mutig. So alleine, so verlassen und doch scheint sie nicht voller Groll. Wie ist das nur möglich?«, sprach er am Telefon zu seinem Bruder.

      »Weil sie eben unsere Lydia ist. Für sie ist Liebe nun mal stärker als alles andere. Aber sei vorsichtig! Sie ist verletzlicher, als sie es sich selbst eingesteht. Sie würde wohl nie ein schlechtes Wort über uns denken, und doch wird sie das Gefühl haben, hintergangen worden zu sein. Wir haben sie in dem Moment im Stich gelassen, als Vater beschloss sie wegzuschicken.«

      »Wir hatten keine Wahl.«

      »Es gibt immer eine Wahl«, meinte Michael ernst.

      *

      Mit zittrigen Fingern öffnete Lydia zuerst die Briefe, in denen Karten waren:

      »Alles Liebe zum Geburtstag, Schwesterchen! Lass es dir gut gehen. Wir hören voneinander. Alles Gute, Tom.«

      Auf der zweiten Karte stand:

      »Hallo, Liebes, du hast sicherlich meinen Brief gelesen und bist überrascht. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute für deine Zukunft! Du wirst eines Tages eine tolle Frau werden, da bin ich mir sicher. Pass gut auf dich auf. Happy Birthday, Kleines!

      In Liebe, dein Steve.«

      Sie runzelte die Stirn und öffnete schließlich das Päckchen, welches von Michael war.

      Direkt oben drauf lag ein langer Brief:

      

      *

      »Hallo, Lydia!

      Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

      Sicherlich wunderst du dich, weshalb ich dir schreibe. Unser Vater hat dir ja bereits das geschenkt, was in deinem Zimmer - hoffentlich - steht.

      Ich schulde dir eine Erklärung und eine Entschuldigung. Ich war immer wortkarg, wie du weißt. Habe nie groß Sprüche geklopft oder meine Meinung offen kundgegeben.

      Doch meine liebe Frau hat mich ermutigt. Während ich nicht wusste, ob du meine Sicht über alles erfahren willst, wusste sie scheinbar, dass es das Beste für uns beide wäre.

      Ich war dreizehn, als unser Vater dich zu uns holte. Er hat zu Steve und mir gesagt:

      ›Das ist eure neue Schwester. Wir haben sie zu uns geholt, weil sie sonst ganz alleine wäre.‹

      Und damit gehörtest du zu uns. Wir haben dich gleich lieb gewonnen. Du hast uns mit deinen großen, leuchtenden grünen Augen angestrahlt und hast so niedlich gelächelt. Steve hat es nicht direkt verstanden, aber ich wusste, was das bedeutete.

      Mir war klar, dass wir auf dich Aufpassen mussten. Als großer Bruder war ich für dich verantwortlich. Leider hab ich das nicht immer so gesehen und war froh, dass Steve so vernarrt in dich war.

      Vor einigen Monaten hat unser Vater mit mir geredet. Ich war der einzige, der genau Bescheid über alles wusste, auch über Tom. Stephen und Sam ahnten nichts davon.

      Unser Vater hat mich gefragt, was er machen soll. Die Familie von Tom hat ihm geschrieben und gemeint, dass ihr Sohn manchmal merkt, das etwas nicht stimmt. Er sagte mir auch, dass sich seine Familie Sorgen mache. Tom war klug,

      irgendwann