Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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ich, dass wir Freunde sein können.

      ›Der Kuss war falsch‹, wirst du jetzt sicherlich denken. Das mag sein, ja. Aber gestern, zehn nach halb neun Uhr in der Früh, war er das noch nicht. Und mehr wäre eh nicht passiert.

      Wir wären nicht weiter gegangen. Niemand kann uns deshalb Vorwürfe machen. Wir wussten es nicht. Wir hatten keine Ahnung gehabt. Waren zwei junge Menschen, die für einen Augenblick Gefühle zuließen.

      Wir werden den Kontakt halten, hoffe ich jedenfalls. Wir freunden uns an. Wir werden unseren Zwillingsinstinkt (falls es so etwas wirklich gibt) aktivieren und so fühlen, ob es dem anderen gut geht oder nicht. Für deine Zukunft und für deine Prüfungen wünsche ich dir alles Gute. Wo dich der Wind hinführt, weiß ich nicht, aber ich hoffe, du vergisst mich nicht und schreibst mir, so oft du willst. Ich hoffe, du lässt mich an deinen Gedanken teilhaben.

      Ich hoffe, du vertraust mir deine Sorgen und Ängste, Wünsche und Hoffnungen an. Du findest irgendwann ein Mädchen, welche die Richtige für dich ist. Aber such dir nicht irgendeine, dafür ist das Herz zu kostbar. Pass auf dich auf, Thomas!

      Du bist meine Familie. Es ist schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten. Aber vielleicht ist es das einzig Richtige. Abstand zu bekommen ist gut, denke ich. Wenn du nicht sofort antworten kannst, dann lass so viel Zeit vergehen, wie deine Wunden brauchen, um zu heilen. Ich bin für dich da, egal wann. Du kannst mit mir über alles sprechen! Ich bin in Gedanken bei dir.

      Rede so oft es nur geht mit deiner Familie, denn nur so kannst du das alles Überwinden und uns als Geschwister akzeptieren.

      Bleibe so, wie du bist, und achte auf dich, Deine Schwester!«

      *

      Sie verfasste noch einen kurzen Brief an Madlen, den sie mit in den Umschlag packte. Sie schrieb, wie leid es ihr täte, dass sie nicht die Ausbildung antreten könnte, und versuchte, es in wenigen Worten zu erklären.

      Sie atmete tief durch, als sie daran dachte. Ihr Traum zerplatzte so schnell, dass sie wehmütig aus dem Fenster des Zuges blickte und für eine Weile einfach nur gedankenverloren in die Ferne schaute.

      Als Lydia den Bahnhof erreichte, war noch etwas Zeit. Sie sah sich um und ging in Richtung ihres nächsten Gleises. Auf dem Weg entdeckte sie einen Laden und kaufte dort einen kleinen Teddy, der in den Umschlag passte, dazu eine tolle Geburtstagskarte.

      Einen Briefkasten fand sie ebenfalls.

      Sie schaute sich um, das Gepäck stand neben ihr und plötzlich fühlte sie sich so unglaublich einsam und verlassen, wie noch nie in ihrem Leben. Sie zitterte etwas, doch an diesem Ort konnte sie nicht zusammenbrechen. Dafür wäre noch genug Zeit.

      Sie war alleine und das machte ihr Angst.

      Das junge Mädchen war nun auf sich gestellt. Niemand würde ihr Halt geben und sie in ihre Zukunft begleiten.

      Ihre Hand wanderte zu ihrer Kette und sie drückte den kleinen Anhänger so fest, dass sie einen Abdruck davon in ihrer Handfläche hatte.

      ›Ach Steve. Wenn ich nur wüsste, was ich machen soll. Was ich nun denken, fühlen und machen muss. Wie soll ich unbeschwert leben, wenn ich doch weiß, dass zu Hause alles im Chaos geendet hat. Aber vielleicht mache ich mich auch nur selber verrückt und in Wirklichkeit seid ihr alle erleichtert, dass die Wahrheit nun raus ist.

      Wenn es nicht so wäre und Tom und ich hätten erst viel später erfahren, dass wir verwandt sind ... Oje, das wäre schrecklich geworden. Viele Dummheiten. Wir hätten uns verliebt. Nicht auszudenken, was wir angerichtet hätten. Auch wenn ich DAS noch nicht machen würde. Es war schon richtig, es uns zu sagen. Mich wegzuschicken war das einzig Sinnvolle‹, dachte Lydia.

      Wie sollte sie das durchstehen?

      Es ging ihr von Minute zu Minute schlechter. Alles was sie glaubte zu sein, war nichts mehr als Schein.

      Nun begriff sie auch, weshalb sie manchmal solche Alpträume hatte oder warum sie alles bekam, was sie sich wünschte. Es war, als würde sie in ein tiefes Loch voller Erinnerungen fallen.

      Die Strenge, die ihr Vater ihr gegenüber vorbrachte, war so unnatürlich. Als ob er endlich wieder Er selbst sein konnte.

      Das galt wohl auch für die anderen. Ihr wurde bewusst, wie wenig Zeit sie mit Sam verbrachte. Wahrscheinlich seitdem er wusste, wer sie wirklich war.

      Doch war dies erst der Beginn, …

       6. Neuanfang

      Das Mädchen war komplett am Ende. Alle paar Minuten dachte sie an etwas anderes und dann grübelte sie sehr lange darüber. Doch irgendwann schlief sie vor Erschöpfung einfach ein, während sie ein Buch noch in der Hand hielt. Als der Zug hielt, musste sie erst einmal überlegen, wo sie sich befand und dann prasselte die Realität wieder auf sie ein.

      Die Strecke bis zum Internat selbst fuhr sie mit einem Taxi. So weit war es zum Glück nicht, vielleicht zwanzig Minuten. Der Taxifahrer schien ihre Stimmung zu registrieren, denn er ließ sie in Ruhe, lächelte sie aber freundlich an, als sich ihre Blicke im Rückspiegel begegneten. Sie versuchte, ein Lächeln zustande zu bekommen, und blieb natürlich freundlich.

      »Hallo. Lydia Schaf mein Name. Ich wollte mich anmelden.«

      »Guten Tag. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«

      »Ja, vielen Dank«, sagte sie, ihre Stimme aber war sehr klanglos.

      »Das freut mich!«, sagte die Frau von der Anmeldung. »Gut, dann werden wir Sie mal in Ihr Zimmer bringen.«

      Sie registrierte kaum etwas von ihrer Umgebung, obwohl ihr erzählt wurde, wo sich was befand und war froh, als sie endlich in ihrem Zweibettzimmer angekommen waren.

      Da Sonntag war, waren die meisten Schülerinnen - denn es war eine reine Mädchenschule - nach Hause gefahren.

      »Ihr Vater rief uns heute Vormittag an«, begann die Frau, »er wollte sicher gehen, dass Sie auch wirklich gut ankommen und sich gut einleben. Da er Sie nicht selbst bringen konnte, bat er mich, ihn später zu benachrichtigen, wenn wir hier fertig sind.« Lydia lächelte und nickte sie an, sie hoffte zumindest, dass sie lächelte. Es fühlte sich recht merkwürdig an. »Wollen Sie, dass ich ihm etwas ausrichte?«

      Sie dachte nach.

      »Nein, alles gut. Haben Sie vielen Dank!« Lydia versuchte, so nett wie möglich zu sein, denn sie würde die nächsten Jahre hier verbringen.

      »Brauchen Sie noch etwas?«

      »Nein, ich hab alles. Ich würde gerne meine Sachen auspacken und mich etwas hinlegen, wenn ich darf?«, sagte Lydia.

      »Gut! Wenn Sie noch was benötigen oder Ihnen etwas auf dem Herzen liegt, sagen Sie Bescheid. Hier noch ein Ordner über das Internat. Mit allen Regeln, der Hausordnung, Speiseplänen, Stundenplänen und einer Auflistung der Lehrer, die hier unterrichten.«

      Sie nickte, nahm es an sich und bedankte sich. Die Tür schloss sich und sie war wieder alleine. Sie inspizierte ihr Zimmer, entdeckte das eigene Badezimmer mit Badewanne und Dusche und schaute noch einmal nach, wie ihre Mitbewohnerin hieß: Julie Schmoll.

      Die Sachen legte sie ordentlich in den Kleiderschrank und seufzte, als sie den Geruch wahrnahm, der an ihnen haftete. Er erinnerte sie an das Weichmittel, welches sie einst mit Steve zusammen ausgesucht hatte und seit vielen Jahren benutzten. Es roch nach zu Hause, aber sie wusste, dass es bald verfliegen und sich ein neuer Geruch in den Vordergrund drängen würde.

      Ihr Bett war direkt neben der Tür, während ihre Mitbewohnerin am Fenster schlief. Dort standen zwei Pflanzen und ein paar Figuren. Auf dem Nachttisch von ihr waren Bilder - sicher von ihrer Familie und ihren Freunden - dazu noch ein Wecker.

      In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, auf dem eine Blume ragte. Sogar zwei Computertische, mit PC, gab es.

      Lydia setzte sich auf ihr Bett und legte den Ordner vor sich.

      Sie