Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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›Oh, ich guck ja gerade in einen Spiegel‹.

      So etwas Absurdes überhaupt zu denken, ja gar in Erwägung zu ziehen, ist einfach lächerlich.

      Wenn ich aber jetzt daran denke, wie ähnlich wir uns sind, ... es ist verrückt. Einfach nur lächerlich. Manchmal ist man geblendet von dem, was man sieht. Alles nur Schein.

      Meine Gefühle haben in jenem Moment, als wir es erfuhren, so verrückt gespielt, dass ich Magenschmerzen bekam. Noch immer dreht sich alles.

      Zeit, viel Zeit werde ich benötigen, um all das überhaupt zu verstehen und zu verarbeiten. Und ich hab absolut keine Ahnung, ob mein Brief überhaupt sinn ergibt. Denn ich kann keinen klaren Gedanken fassen.

      Wenn ich an Thomas denke, muss ich lächeln. Mein

      Zwillingsbruder! Er ist mir so ähnlich, so unglaublich ähnlich.

      Wir beide lieben dieselbe Musik, haben eine Laktoseintoleranz, lieben Jane Austen Romane. Und während ich so darüber nachdenke, fällt mir etwas Lustiges auf: Thomas und Lydia sind beides Namen, die auch in den Romanen von Austen vorkommen. Du kennst mich, Steve. Ich versuche immer, etwas Positives zu finden.

      Daher auch ein kleines Rätsel - nur für dich: Wenn du weißt, von welchen Charakteren ich rede, dann schreib mir. Vorher nicht. So viel Zeit muss sein. Wir brauchen alle Zeit, um uns wieder zu fangen und wieder das Leben zu führen, wie wir es kennen.

      Aber du hast es ja gelernt, zu recherchieren und nach etwas zu suchen, was verborgen ist.

      Ich gebe dir nur diesen Tipp: Beide bringen sowohl Leid als auch Glück mit. Wahrscheinlich haben Shannon und James nicht daran gedacht, aber unsere Namen kommen in den Romanen vor.

      Mein lieber Steve, du warst immer mein bester Freund. Ich habe immer zu dir aufgeschaut. Ob ich es noch tue, weiß ich nicht. Du bist mein Vorbild, fünf Jahre älter und natürlich hast du das erreicht, was du dir erträumt hast.

      Aber ob wir uns wieder sehen, ob wir uns jemals wieder in die Arme nehmen können, kann ich nicht sagen.

      Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich 18 Jahre alt sein.

      Wenn ich dann irgendwas studiere - und ich gehe mal davon aus, dass ich das werde - wirst du vielleicht verheiratet sein und eine Familie gründen. Und wenn ich daran denke, mich je wieder zu verlieben, wird mir ganz komisch.

      Nein, ich werde jetzt eine tolle Schülerin. Ich will euch nicht enttäuschen.

      Aber ob ihr mich dann überhaupt noch als Mitglied der Familie anseht, bezweifle ich. Vielleicht ist es auch gut so, wenn wir uns nicht mehr als Bruder und Schwester betrachten.

      Vielleicht sollten wir das auch nicht mehr. Ich möchte dich als meinen besten Freund in Erinnerung behalten. Wir werden uns weiterhin Briefe schreiben und uns - hoffentlich - alles sagen, was wir fühlen und denken. Doch hast du mein Vertrauen verloren. Ich hätte die Wahrheit von dir erfahren müssen und nicht auf diese Weise!!

      Es braucht Zeit, bis wir wieder diese Freundschaft aufbauen, die wir bis Donnerstag hatten oder sogar noch am Samstagmorgen.

      Ich werde den Brief gleich abschicken, wenn ich einen Briefkasten finde. Das bin ich dir schuldig. Hab tausend Dank für die wunderschöne Kette und auch für das Foto. Seltsam, dass alles so schnell vorbei sein kann, oder?

      Ich werde diesen Brief direkt an deine Adresse schicken.

      Richte den anderen aus, dass ich erst einmal Abstand brauche.

      Sag ihnen schöne Grüße und das ich in Gedanken bei ihnen bin.

      Steve, denke immer daran: Ich bin für dich da. Mit meinen fast 16 Jahren kann ich zwar nicht die Welt verändern, aber ich kann zuhören und bin eine leidenschaftliche Leserin - die gerne viel Post bekommt und viel lesen will - und oft reicht das schon.

      Es wäre nett, wenn du dich etwas um Tom kümmern könntest.

      Wenn du ihn ab und zu anrufst oder ihn mal besuchst. Tust du mir diesen Gefallen?

      Mit Herz, Seele und voller Zuversicht - dass wir unsere

      Freundschaft nicht verlieren,

      Deine Lydia.«

      *

      Damit beendete sie den Brief an Steve. Wusste aber nicht, ob sie das Richtige schrieb, viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht gehabt. Sie ließ einfach ihr Herz sprechen. Sie packte die beschriebenen Seiten in einen Umschlag, adressierte ihn und klebte eine Marke drauf.

      Ironischerweise hatte sie noch einige Briefmarken in ihrem Portemonnaie, sie benötigte viele für Bewerbungen oder für Anfragen. Lydia legte den Brief beiseite und nahm ihren Stift erneut in die Hand:

      *

      »Hallo, Brüderchen!

      Es ist schon recht merkwürdig, wie sich die Dinge entwickeln. Dabei kennen wir uns erst seit Freitag. Hatten uns am Donnerstag nur wenige Sekunden gesehen, und doch kommt es mir so vor, als würden wir uns schon ewig kennen.

      Ich werde den Moment nie vergessen, als ich dich auf dem Balkon das erste Mal sah. Irgendwie musst du intuitiv gespürt haben, dass wir zusammen gehören, sonst wärst du mir sicherlich nicht am Freitag nachgelaufen.

      Dass uns etwas verbindet, haben wir früh gemerkt. Wir waren uns ähnlich. Haben das Gleiche gelesen, dasselbe gedacht und doch waren wir uns im Grunde fremd. Wer hätte schon ahnen können, dass du und ich, dass wir mehr sind als nur Seelenverwandte. Zwillinge! Zwillinge! Ich muss es mir zigmal sagen, damit ich es auch wirklich verstehen kann.

      Unsere Eltern haben uns als Babys adoptiert. Während

      Shannon und James so früh sterben mussten. Das ist ein so eigenartiges Gefühl. Als ich das hörte, tat mir alles weh.

      Und doch hatten wir Glück. Wir kamen zu so liebe Menschen, die uns nie das Gefühl gaben, unerwünscht zu sein. Nie wäre ich auf so etwas gekommen. Adoptiert! Das ist ein so gigantisches Wort, so schwer, so unglaublich zu begreifen.

      Wie kommst du damit zurecht? Hast du Halt gefunden? Hast du mit deiner Familie in Ruhe alles klären können? Hast du mehr erfahren als ich? Haben wir noch irgendwo Verwandte?

      Ich denke nicht, sonst wären wir sicherlich nicht zu unseren Paten gekommen, oder? Was geht dir so durch den Kopf? Mir schwirrt meiner.

      Für dich muss ebenso eine Welt zusammen gebrochen sein.

      Alles, was wir dachten, steht auf dem Kopf.

      Alles, was wir glaubten zu sein, war eine Lüge. Doch können wir niemanden Vorwürfe machen. Sie wollten uns beschützen und nur das Beste für uns.

      Ich glaube, Shannon und James wollten nicht, dass wir noch einmal alleine da stehen, daher haben sie uns trennen lassen. Sie hatten womöglich Angst, dass Franziska oder Sascha etwas zustoßen könnte und somit beschlossen sie, uns zu trennen.

      Vielleicht ja mit dem Vermerk, das wir eines Tages alles erfahren sollen und wer weiß, vielleicht sollte es noch vor unserem 16. Geburtstag sein ...?

      Wenn wir uns nicht so gut verstanden hätten, müsste ich jetzt nicht weggehen(?). Es gibt noch vieles, was ich nicht verstehe, so viele offene Fragen. Und ich habe keine Chance mehr so richtig, sie beantwortet zu bekommen.

      Ich wünsche mir, dass wir uns kennen lernen und Freunde werden. Nun muss ich lächeln. Der Freitag war doch einmalig, oder? So etwas erlebt zu haben, ist selten. So etwas zu empfinden, was wir empfanden, ist selten. Auch wenn ich gestern noch Scham verspürte, so ist jetzt daraus ein Gefühl der Wärme geworden. Es gibt nicht viele Menschen, die diese Erfahrung machen dürfen.

      Ganz gleich, was Samstagnachmittag passierte, ganz gleich, welche Wahrheit uns so aus dem Gleichgewicht riss:

      Wir haben für einen Moment etwas Tieferes empfunden.

      Diesen Augenblick sollten wir in uns bewahren, als Erinnerung.

      Wir wussten ja nicht, dass es falsch