Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


Скачать книгу

klar.« Sie lächelte und las weiter. Ihr ging so viel im Kopf herum, sie musste ja auch noch packen und ... Sie las und las, betonte alles so, wie es sein sollte, und wollte sich am liebsten in dieser Geschichte verlieren. Nicht mehr herauskommen. Aber das war unmöglich. Die Realität lauerte hinter der Tür auf sie. Ihre Seifenblase wollte sie noch aufrechterhalten, zumindest für ein paar Stunden. Danach durfte sie wieder platzen.

      »Schlaf gut, Bruderherz und vergiss mich nicht«, sagte sie, als sie sich gute Nacht wünschten. Leider verflogen ihre Kopfschmerzen nicht durch die frische Luft. Sie lag im Bett und starrte zur Decke:

      *

      »‹Wenn ich, zerfallen mit Geschick und Welt,

      Als Ausgestoßener weinend mich beklage,

      Umsonst mein Flehn zum tauben Himmel gellt,

      Und ich verzweifelt fluche meinem Tage, -

      Dann wär‹ ich gern wie andre hoffnungsreich,

      So schön wie sie, bei Freunden beliebt,

      An Kunst und hohem Ziele manchem gleich,

      Freudlos mit dem, was mir das Schicksal gibt.

      Veracht‹ ich mich beinah in den Gedanken,

      so denk‹ ich dein, dann steigt mein Geist empor

      Der Lerche gleich von trüber Erde Schranken

      Und jauchzt im Frührot an des Himmels Tor.«

      *

      Sie atmete tief durch und flüsterte in die Dunkelheit hinein:

      »Ach, Shakespeare sprach schon weise in seinen Sonetten.

      Vielleicht passt ja auch irgendwann das letzte Stück von der 29 zu mir.

      *

      ›In deiner Liebe fühl‹ ich mich so reich,

      daß ich nicht tausche um ein Königreich!‹«

      *

      Lydia fühlte viel, nur nicht geliebt. Manchmal, wenn sie weder ein noch aus wusste, zitierte sie einfach irgendwas. Sie sprach dann mit sich selbst, damit sie ihre Gedanken wieder ordnen konnte. So war sie und in der Regel half ihr William Shakespeare wieder aus einer Sackgasse hinaus.

      Und während sie vor sich hin murmelte verharrte Stephen eine Zeitlang vor ihrer Tür und hörte ihr aufmerksam zu. Denn, wie der Zufall es so wollte, war sie nicht gänzlich geschlossen.

      Er wollte eintreten, ihr beistehen, doch ihm war bewusst, dass sie Zeit für sich brauchte.

      Es war Sonntag und Lydia konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Sie hatte ihre Sachen gepackt. Auch Tom schlief nicht und immer, wenn er hinüberblickte, sah er noch Licht bei seiner Schwester brennen.

      Irgendwann wusste Lydia, dass sie nun in die Küche gehen konnte.

      »Hey«, flüstere Steve und schaute sie mit seinen großen, braunen Augen an.

      »Morgen«, sagte sie und runzelte die Stirn, zog den Stuhl zurück und setzte sich. Ihr Blick fiel auf die Uhr hinter Steve und wunderte sich, warum er noch vor sieben Uhr wach war.

      »Ich konnte nicht schlafen«, meinte er, als er ihren verunsicherten Blick wahrnahm.

      »Ja, ich auch nicht. Ich hab meine Sachen gepackt.«

      Lächelnd stand er auf und goss ihr eine Tasse Kaffee ein. Er wusste, dass sie sehr früh aufstehen würde.

      »Danke.« Die Tasse wärmte ihre kalten Hände und sie sog den Duft in sich auf. Kaffeeduft beruhigte sie.

      »Ich versteh nicht, warum du nie etwas zu mir gesagt hast.«

      Steve nahm ihre Hand, die auf dem Tisch lag.

      »Hättest du es denn verstanden? Wenn wir es dir vor Jahren schon gesagt hätten, würdest du es dann so verstehen wie heute?«

      »Aber ich kapiere es ja nicht«, sprach sie verzweifelt.

      »Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Toms Familie schon früher hergezogen wäre. Vor Jahren wäre dir nicht das Herz gebrochen worden.«

      »Mir wird schon wieder schlecht!«, murmelte sie in ihre Kaffeetasse.

      »Weil ihr euch geküsst habt?« Sie sah ihn mit verkniffenen Augen an. Ihre Stimmen blieben die ganze Zeit gedämpft, da sie niemanden wecken wollten. Für beide war es wichtig, noch einmal etwas Zeit miteinander zu verbringen.

      »Mach dir mal keine Gedanken darüber. Es ist nichts passiert.«

      »Steve, kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.

      »Alles, was du willst.«

      »Würdest du mich zum Bahnhof bringen? Gegen 8 Uhr fährt ein Zug.«

      »Du willst nicht, dass ich dich direkt hinfahre?«, fragte er sie.

      »Nein!«

      »Aber bis dahin werden die anderen noch schlafen.«

      »Das ist ja meine Absicht. Du bist Frühaufsteher.«

      Natürlich willigte er ein. Er würde um die halbe Welt reisen, um ihr zu helfen.

      Sie verzog sich ins Bad, doch nach einer Weile kam Steve rein. Er wollte etwas mit ihr besprechen und hatte vollkommen vergessen, anzuklopfen, da er so in Gedanken war.

      »Entschuldige!« Er schloss die Tür wieder und versank vor Scham im Boden. Kurz darauf wurde die Tür wieder geöffnet. Lydia hatte ihre Zahnbürste im Mund.

      »Tut mir leid. Das ist mir peinlich.«

      Sie spuckte die Pasta aus und legte die Bürste in eine Tasche.

      »Nichts passiert.«

      »Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du Hilfe beim zusammen packen brauchst und was du essen möchtest«, stammelte er.

      »Wenn du magst, klar.« Sie suchten nun Lydias Kosmetikzeug zusammen und gingen gemeinsam nach unten.

      »Ach Stevie, du bist ja immer noch knallrot.« Sie boxte ihn und sagte: »Hey, wo nichts wächst, kann man auch nichts weggucken, denke dran!«

      Da musste er lachen, doch wusste er natürlich, dass das nicht der Wahrheit entsprach. So etwas machte man nicht und da gab es auch nichts schönzureden oder zu diskutieren.

      »Ja, das stimmt allerdings«, sagte er lachend. Sie schubste ihn und nun mussten sie gemeinsam lachen. Trotzdem fragte sich Lydia, ob es wohl jemals wieder so wie früher sein wird? Ob sie jemals wieder unbeschwert sein können.

      Nach dem Frühstück packte er ihre Taschen in den Kofferraum.

      »Hast du genug Geld?«, wollte er wissen, als sie am Auto standen.

      »Oh verdammt! Da war ja noch was, was ich erledigen wollte«, meinte sie und schnipste mit den Fingern.

      Steve nickte, zog sein Portmonee heraus und reichte ihr ein paar Scheine. Damit müsste sie die erste Zeit überstehen können.

      »Danke. Das bekommst du aber bald zurück.« Sie fühlte sich so merkwürdig. Noch bevor sie es unterdrücken konnte, kullerte eine Träne ihre Wange hinunter.

      Er ging etwas in die Knie und sah sie von unten an:

      »Sei nicht albern, das ist das Mindeste.« Und wischte die Träne so sanft weg, dass sie die Luft anhalten musste.

      »Danke.«

      Sam, Michael und Sascha kamen nach unten. Doch sie sahen nur noch die Rücklichter vom Auto. Auch als Tom wach wurde, wusste er, dass er sie verpasst hatte.

      Er blickte zu ihr rüber. Ein Zettel klebte an der Scheibe:

      »Vergiss mich nicht, Brüderchen.«

      *