Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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entwickeln?« Lydia war komplett fertig.

      »Ihr wart gerade dabei, euch in einander zu verlieben, habt euch geküsst«, sprach der Ältere behutsam.

      Lydia, die noch immer die Hand von Tom hielt, ließ sie augenblicklich los.

      »Mir wird schlecht«, murmelte sie, hielt sich eine Hand vor ihren Mund und lief ins Bad. Tom folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Lydia erbrach sich, kaum dass die den Toilettendeckel hochgeklappt hatte.

      »Lydia, rede mit mir!« Er klang verzweifelt und als er sein Spiegelbild erblickte, erkannte er sich selbst nicht darin. Zerzauste Haare, verwirrter und verängstigter Blick, glasige Augen.

      »Wir haben uns geküsst! Zweimal! Einmal mit Zunge! Oh mein Gott. Das gibt es nicht.«

      »Dein Vater muss uns beobachtet haben! Nachdem du in den Laden gegangen bist, hab ich ihn gesehen.«

      Sie fasste sich an ihre Stirn, die eiskalt war und ihr wurde erneut schummrig und schlecht. Sie musste würgen, aber es kam nur noch Gale mit hoch, was in ihrer Speiseröhre brannte.

      »Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie.

      Tom musste sich irgendwo festhalten und schüttelte immer wieder den Kopf. »Oh Gott. Ich darf gar nicht daran denken, was noch passiert wäre.« Sie wusste, was er meinte, doch konnte sie es nicht in Worte fassen.

      »Tom, sag so was nicht. Du darfst nicht mal daran denken.« Er schämte sich, boxte mit der Faust gegen die Fliesen im Bad. Er haute so stark drauf, dass er sie kaputt schlug und sich schnitt.

      »Ach herrje. Warte.« Sie holte eine Creme, Verband und verarztete ihn.

      »Danke, Schwesterchen.« Sie lächelten beide. »Es tut mir leid.«

      »Was denn, Tom?«, fragte sie irritiert und schaute ihn wieder an.

      »Das ich dich geküsst habe!«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Wir haben uns geküsst.« Sie zuckte mit den Schultern.

      »Es sollte nicht sein. Wir haben zu gut zusammen gepasst, verstanden uns gleich auf Anhieb.«

      Er nahm sie in den Arm. So blieben sie noch eine Weile stehen und gaben sich einfach nur selbst Halt. Sie spülte ihren Mund mit Mundwasser aus, damit sie diesen ekelhaften Geschmack los wurde.

      »Wir sollten wieder nach unten gehen«, schlug sie schließlich vor und vermied es, in den Spiegel zu schauen, obwohl er genau vor ihr war. Sie wollte nicht wissen, wie sie aussah. Es war ihr egal. Alles schien plötzlich von einem Nebel, um sie herum verschlungen zu werden, und hinterließ nichts weiter als ein Gefühl der Leere.

      »Hast du dich schon beruhigt?«

      Tapfer lächelte sie ihn an und öffnete die Tür.

      Steve stand nervös an der Treppe.

      Er wusste nicht, ob er ins Bad gehen sollte. Also wartete er. Er wollte sie doch nur beschützen. Sie vor all den Schmerzen bewahren, die sie nun erlitt. Die Wahrheit brannte sich seit vielen Jahren in sein Inneres. Er konnte nichts sagen. Deshalb rackerte er hart und wollte nicht mehr in ihrer Nähe sein.

      Er erkundigte sich nach Toms Hand, dann umarmte er ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Kumpelhaft sollte er wirken. Schließlich ging er etwas in die Knie, um Lydia direkt in die Augen zu schauen. Er versuchte zu lächeln und nahm sie einfach in die Arme. Sie hörte seinen Herzschlag, schloss die Augen und atmete seinen Duft ein. Wenigstens den kannte sie noch.

      »Das ist echt Horror!«, sagte sie leise zu Steve.

      Er zog sie sanft an sich und meinte: »Alles wird wieder gut.« Sie blickte auf und hoffte, er würde recht behalten.

      »Geht es euch gut?« Im Wohnzimmer warteten alle gespannt auf sie und schienen etwas in Deckung zu gehen.

      »Ja. Wir haben über alles geredet«, meinte Lydia Träge.

      »Konntet ihr eure Gefühle klären?«, wollte Sam wissen, der mit den Händen in den Hosentaschen am Fenster stand und sie mitleidig betrachtete. Nachdem die Wahrheit vor wenigen Minuten ans Licht gekommen war, konnte er endlich wieder durchatmen.

      »Da gab es nichts zu klären. Tom ist mein Bruder, fertig.«

      Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

      »Ganz schön viel passiert heute. Bis zum Mittag war mein Leben wunderschön. Jetzt ist es einfach nur noch Chaos. In meinem Kopf schwirrt es und da Tom mir so unglaublich ähnlich ist, wird es ihm nicht anders gehen. Selbst Sam und Steve sind verwirrt. Ob Michael alles wusste, glaub ich nicht.

      Jedenfalls sah er auch sehr geschockt aus, als es um eure Mutter ging. Es ist komisch. Plötzlich sind wir Zwillinge und im Grunde Waisen. So sollte unser Geburtstag, den wir in wenigen Tagen haben, nicht aussehen. Der Sechzehnte sollte was Besonderes sein. Um aber nicht noch mehr Schmerz zu verbreiten und Trostlosigkeit in euren Augen sehen zu müssen«, sie blickte sich um und blieb bei Steve hängen, »werde ich morgen ins Internat gehen.

      Ich werde mein Abitur machen, um später zu studieren.

      Vielleicht werde ich Verlegerin oder Journalistin.« Sie lächelte Steve an. »Ich bin froh, dass Shannon und James uns zu euch gebracht haben. Dass wir getrennt wurden, beschert es uns nun eine so große Familie, wie sie toller kaum sein könnte.«

      Tom stimmte dem zu, war aber traurig über ihre Entscheidung.

      »Ich möchte nichts mehr davon hören. Die Entscheidung wegzugehen, ist die einzig Richtige. Ihr hattet es von vornherein geplant. Steve ist sicherlich hergekommen, weil ihr alle wusstet, dass so was passiert und Michael kam, um sein Gewissen zu erleichtern. Ihr werdet mir fehlen. Ich hoffe, wir können trotzdem Kontakt halten?

      Und ich hoffe, ihr verbietet Tom und mir nicht, dass wir uns kennen lernen. Er ist mein Bruder. Und, wie es aussieht, mein einziger Verwandter«, sie beendete ihren Monolog und ging nach oben. Wortlos und perplex lief Tom nach Hause, seine Eltern entschuldigten sich und folgten ihrem Sohn.

      »‹Shakespeare‹ lässt grüßen«, stammelte Sam, der in seiner Schulzeit viel über den Engländer lesen musste. Ja, auch beim Barden gab es sehr häufig monologische Erklärungsstränge.

      »Sam, sie hat ein Recht sich Luft zu machen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang angelogen.«

      »Ich weiß, Steve. Aber endlich ist die Katze aus dem Sack und wir brauchen nicht mehr geduckt durchs Leben gehen. Für mich war es auch nicht einfach. Manchmal musste ich mir auf die Zunge beißen, um es nicht versehentlich auszuplaudern«, gestand der jüngere.

      »Nun müssen wir sehen, wie sie es wegsteckt.« Doch auch Steve fiel es nicht immer einfach, das Geheimnis zu wahren.

      *

      Nur noch einen letzten Abend mit Tom verbringen, mehr wollte sie nicht. Sie hatte Kopfschmerzen, ihr war noch immer schlecht und sie glaubte, alles um sie herum würde sich im Kreis drehen. Immer schneller, unaufhaltsam würde es aber irgendwann stehen bleiben und sie gegen eine Wand krachen lassen.

      Es wurde alles gesagt und niemand hielt sie davon ab. Er war ihr Bruder und sie musste ihn kennen lernen. Sie legte eine CD ein, drehte aber den Regler leiser.

      »Tom! Schön dich zu sehen!«

      Er nickte.

      »Komm Schwesterchen, lies mir aus dem Buch vor. Wir haben genug geredet! Jetzt will ich an nichts mehr denken,

      außer an unsere Figuren.«

      Lydia lächelte und holte den Roman wieder hervor.

      »Wie willst du«, begann er nach einer Weile, »morgen ins Internat kommen? Fahrt ihr mit dem Auto?«

      »Nein! Ich werde mich sehr früh losmachen. Ich möchte Stephen fragen, ob er mich zum Bahnhof fährt und dann war es das.«

      »Kein Zurück mehr?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke