Janine Zachariae

Lydia - die komplette Reihe


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Tasse Kaffee. Die Jungs sahen sich an und verzogen sich ins Wohnzimmer. Sam war irgendwie erleichtert. Er liebte Lydia, wie er seine Brüder liebte, aber es war nie einfach. Er wuchs schließlich auch ohne Mutter auf, doch darauf achtete niemand. Es ging stets um Lydia. Allerdings musste er sich auch eingestehen: Seine Schwester war immer für ihn da gewesen und sie kümmerte sich um den Haushalt, sorgte dafür, dass alles ordentlich war.

      Ja, er würde sie vermissen. Möglicherweise sogar mehr, als er es sich jetzt eingestand.

      Michael hingegen wollte einfach nur, dass sie ihm verzeihen würde. Es war für alle das Beste gewesen, das sie fortging. Sie musste selbst darauf kommen und das tat sie. Sie wollte so gerne die Ausbildung beginnen, sie wollte ihre Gefühle zulassen. Doch alles war nun in Scherben. Es zerbrach, ihr Glück.

      *

      »Danke, Steve«, sprach sie, als sie den Bahnhof erreichten. Es war das Erste, was sie sagte, seitdem sie im Auto saßen.

      »Gerne. Warte mal!« Er stieg mit ihr aus und drückte sie ganz fest zum Abschied. »Ich habe noch etwas für dich«, meinte er etwas zögernd. Er reichte ihr einen Brief, der noch etwas anderes enthielt, was sie fühlen konnte. »Erst öffnen, wenn der Zug schon mindestens 15 Minuten lang unterwegs ist.«

      »Mach ich«, versprach sie weinend und zögernd.

      »Deinen Fahrplan hast du und du weißt, wann du umsteigen musst?«

      »Ja. Schickt mir meine restlichen Sachen bei Gelegenheit zu.«

      »Machen wir! Beeile dich.« Tränen brannten in seinen Augen, doch noch konnte er sie nicht ganz zulassen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und rannte, mit Rucksack, Koffer und Tasche, zu ihrem Gleis. Das Ticket kaufte sie online.

      5. Briefe

      Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie wusste, dass Steve noch nicht weg war. Dann sah sie ihn ein letztes Mal. Er wirkte irgendwie verloren und sie beobachtete, wie er sich mit dem Handrücke über seine Augen wischte. Würde sie ihn je wiedersehen? Sie schaute auf die Uhr. Etwa acht Stunden fahrt lag vor ihr, davon brauchte sie nur dreimal umsteigen.

      Stephen blieb solange, bis die Bahn nicht mehr zu sehen war, dann stieg er in seinen Wagen und schlug mit der Hand gegen das Lenkrad. »Verdammt, verdammt, verdammt!«, schrie er verzweifelt. Sie war doch seine beste Freundin gewesen. »Verzeih mir, Lydia, bitte.«

      Das Mädchen stöpselte sich ihre Kopfhörer ins Ohr und lauschte, über ihren MP3 Player, der Musik zu.

      Nach fünfzehn Minuten öffnete sie den Brief:

      *

      »Meine liebe Lydia,

      es ist gerade kurz nach Mitternacht. Ich denke die ganze Zeit nur an dich und überlege, warum es so kommen musste. Es bricht mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie deines brach. Ich habe es förmlich gespürt, als du verwirrt in die Küche gerannt kamst.

      Ich kann es gut nachvollziehen. Für dich brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Ich wollte nicht, dass du je so verletzt wirst. Hatte versucht dich zu schützen. Michael trifft keine Schuld, dass Toms Familie herzog. Du solltest nicht mehr so einsam sein. Er wollte, dass du endlich mal jemanden hast, mit dem du befreundet sein kannst.

      Jemand, der dich versteht. Mit dem du über deine musikalischen und literarischen Vorlieben diskutieren könntest, denn er wusste von Tomas Eltern, was gerne mochte und klang einfach alles ganz genau nach dir.

      Jemand, der dir sehr ähnlich ist.

      Du warst ja immer mit uns Jungs zusammen und hast dich einfach der Situation angepasst.

      Es war ein guter Gedanke von Michael, dass er wollte,

      dass du deinen leiblichen Bruder bei dir hast. Sam studiert bald.

      Keiner hätte geglaubt, dass ihr euch so gut versteht.

      Mach dir aber keine Vorwürfe. Du bist noch so jung und verliebt zu sein gehört einfach dazu. Doch ich weiß, dass du - geschockt von alledem - nichts mehr davon wissen willst.

      Glaub mir, wenn ich sage, dass Sammy und ich keine Ahnung hatten, wer er wirklich ist. Das alles haben wir auch erst ... gestern erfahren.

      Vielleicht werdet ihr ja eines Tages so gute Freunde, wie wir es sind.

      Du bist meine beste Freundin und ich hoffe, wir werden weiter Kontakt haben. Wenn ich daran denke, ohne dich sein zu müssen, dann wäre alles trist und trostlos. Wenn wir uns aber schreiben und trotzdem Freunde bleiben, wäre ich glücklich. Solltest du es allerdings nicht können und du nichts mehr mit uns zu tun haben willst, versteh ich das.

      Aber schreib mir wenigstens, dass du gut angekommen bist, oder ruf mich an.

      Ich wünsche dir alles Gute dieser Welt. Vielleicht kannst du mir eines Tages verzeihen und du empfindest keine Wut mehr.

      Wenn ich dich heute zum Bahnhof bringen muss - und ich bin mir sicher, dass du mich das fragen wirst - werde ich dich vielleicht zum letzten Mal sehen. Das alles geht mir sehr nahe.

      Selbst jetzt frisst es mich fast auf. Ich möchte, dass du deine liebevolle Art behältst, das du nicht voller Kummer durchs Leben gehst. Denn so gefällst du mir nicht - dir steht kein trauriges Gesicht.

      Auch wenn ich dich oft aufzog, aber du bist ein hübsches Mädchen. Nein, du bist eine schöne junge Frau geworden.

      Mit Herz, Seele und voller Liebe,

      Dein Steve.«

      *

      ›Mit Herz, Seele und voller Liebe?‹

      Lydia legte den Brief auf ihren Schoß und dachte an tausend Sachen. Ihr Kopf schwirrte und sie nahm sich erst mal den weiteren Inhalt des Briefes vor. ›Eine Kette?! Ui, die ist ja sehr schön‹, dachte sie erstaunt und entdeckte einen kleinen Zettel: »Ein Glücksbringer. Er soll dich immer an uns erinnern!«

      Zudem befand sie ein Familienfoto mit Michael, Sam, Steve, Sascha und sie in diesem Umschlag. Es war erst letztes Weihnachten entstanden. ›Das waren noch Zeiten und dabei ist es noch nicht lange her.‹

      Lydia spähte auf ihre Uhr. Noch drei Stunden, bis sie das erste Mal umsteigen musste. Sie saß im Nicht-Raucher-Bereich, der aber relativ leer war.

      Sie überlegte, betrachte den Brief und kramte in ihrem Rucksack, holte einen Block und einen Kugelschreiber hervor.

      *

      »Steve, ich weiß ehrlich nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll. Soll ich:

      ›Hallo‹ schreiben? ›Mein Lieber‹? Ich weiß es nicht. Also werde ich einfach so tun, als wären wir mitten in einem Gespräch.

      Ich hab dir noch ein wenig nachsehen können, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ich habe dich noch nie so traurig gesehen!

      Hast du eigentlich jemals geweint? Ich erinnere mich nicht.

      Gut, manchmal bist du geknickt oder etwas deprimiert, aber geweint hast du nie oder nur sehr, sehr selten. Immer wieder nehme ich mir deinen Brief zur Hand, um nichts zu vergessen und um vielleicht selbst Klarheit zu bekommen.

      Das Tom mein Bruder ist, wusstest du scheinbar selbst nicht und auch Sam hatte keine Ahnung.

      Aber du wusstest schon immer, dass ich nicht deine Schwester bin. Es hat einige Stunden gedauert, bis es klick machte. Tom fiel es plötzlich auf.«

      Sie schrieb und schrieb. Ließ einfach den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren und fügte hinzu:

      »Wer hätte schon geahnt, dass wir Zwillinge sind. Ich meine, da zieht - rein zufällig, wie es aussieht - jemand in das Haus nebenan ein und du denkst dir: ›Ach, der sieht ja gut aus.‹ Aber natürlich war das nur ein Gedanke. Als er mich dann am Tag meiner Prüfung einholte und mit mir geredet hat, waren schon Funken zu sehen.

      Anzunehmen, dass