Richard Mackenrodt

Azahrú


Скачать книгу

Fatou deutete mit der rechten Hand auf die Mittagssonne, die im Süden stand. Dann führte sie mit ausgestrecktem Arm den bevorstehenden Lauf der Sonne fort, bis ihre Finger nach Westen deuteten. Nun richtete sie die linke Hand nach Osten, hob sie gen Süden und ließ auch sie nach Westen sinken, bis ihre Handflächen am Ende aufeinander lagen. Sie sah die beiden Besucher auffordernd an. Es war ganz still, keiner der Tuareg, die inzwischen im Halbkreis um die Bilder herum standen, gab einen Laut von sich. Luise und Franz wagten kaum zu atmen. Alle starrten die beiden Deutschen an.

      »Morgen Abend!« rief Luise. »Das heißt morgen Abend, nicht wahr?«

      In vielfachem Tempo wiederholte sie Fatous Pantomime, und jetzt begriff es auch Franz.

      »Wunderbar!« sagte er. »Schön. Das passt uns gut.«

      Eine kleine Woge der Erleichterung ging durch die Tuareg. Viele nickten, manche lachten. Selbst Koumamá nickte zufrieden.

      Franz kaufte dem Stamm drei Schafe ab, die für ihn getötet und enthäutet wurden, bevor sie in die Satteltaschen kamen. Luise konnte dabei nicht zusehen, aber auch ihr war klar: Ein Festessen ohne Fleisch, das über dem Feuer gegrillt wurde, machte keinen Sinn. Den Wein würden sie in der Grube lassen, denn der muslimische Glaube verbot den Tuareg den Genuss von Alkohol. Während Franz am nächsten Vormittag das Fleisch vorbereitete, versuchte Luise zu backen, so wie sie es bei Fatou gesehen hatte. Sie bereitete den Teig zu für eine tâdjella, schob ihn unter die Glut, holte ihn nach einer Weile wieder hervor und bearbeitete ihn mit einer Drahtbürste, bis auch das letzte Körnchen Sand entfernt war. Aber das Ergebnis fand sie nicht befriedigend. Das Fladenbrot war zu hart und schmeckte fad. Das konnte sie unmöglich anbieten. Den ganzen Tag über steigerte sie sich in immer größere Aufregung hinein. Wie viele würden kommen? Hoffentlich würden sie nicht alle nur dasitzen und schweigen! Und um wie viel Uhr würden sie eigentlich hier auftauchen? Nachmittags um sechs oder abends um zehn? Franz versuchte gar nicht erst, sie zu beruhigen, sondern ließ ihrer Aufregung freien Lauf, denn er wusste, alles andere hatte überhaupt keinen Sinn.

      Die Abenddämmerung war schon fortgeschritten, als Luise die Dekoration, mit der sie das Zelt geschmückt hatte, kritisch unter die Lupe nahm. Sie war nicht zufrieden. Zu Hause hätte sie alle Möglichkeiten gehabt, ein rauschendes Fest auf die Beine zu stellen. In der Münchner Gesellschaft waren ihre Feste berühmt, weil ihr jedes Mal etwas Neues einfiel. Einmal hatte sie einen Illusionisten verpflichtet, der sich unerkannt unter die Gäste gemischt und für allerlei Verwirrung gesorgt hatte. Ein andermal hatte der erste Teil des Festes in vollkommener Dunkelheit stattgefunden. Kein einziges Zündholz war erlaubt gewesen. Die Stimmung war auf eine einzigartige Wiese behutsam gewesen, ja poetisch. Als nach zwei Stunden das Licht entfacht wurde und die Gäste einander sehen konnten, wechselte die Atmosphäre und kam innerhalb kurzer Zeit zum Überkochen. Luise war davon überzeugt, dass in der anschließenden Nacht ein paar Babies mehr gezeugt worden waren als sonst. Aber heute hatte sie keine Musiker zur Verfügung, konnte keine Schellackplatten auflegen, es gab keine Bediensteten, und die Vielfalt der Speisen würde auch nicht gerade überwältigend sein.

      Franz winkte in Richtung Osten, wo die untergegangene Sonne noch ihr rotes Feuer über den Himmel warf. Auf dem Kamm einer Sanddüne zeichneten sich die Silhouetten ab - mehara, die Frauen und Kinder trugen, und Männer, die durch den Sand gingen. Luise konnte nicht glauben, dass es so viele waren!

      »Franz, ich glaube, das ist der ganze Stamm!«

      »Sieht aus, als hättest du Recht«, sagte er. »Hoffentlich reicht das Fleisch.«

      Die Tuareg hatten es sich nicht nehmen lassen, zur Verköstigung beizutragen. Sie hatten Ziegenfleisch und Schafskäse in den Satteltaschen, Gemüse und mehrere riesige Töpfe voller Couscous. Franz schätzte, dass sie alleine davon einen halben Zentner mitgebracht haben mussten. Koumamá stellte fest: Für so viele Leute und Gerichte war das Feuer viel zu klein. Seine Leute hatten Wurzelholz dabei, mit dem sie die Feuerstelle kurzerhand um das Fünffache vergrößerten. Franz hatte eine zweite Feuerstelle errichtet, weil er wusste, dass bei den Tuareg Männer und Frauen nicht miteinander aßen. Koumamá fand diese Maßnahme sehr respektvoll, winkte aber ab. Sie brauchten keine zwei Feuerstellen, denn hier waren sie zu Besuch, und deswegen galten die Regeln der Gastgeber. Die Tuareg genossen es, aus ihrem Lager mal heraus zu kommen. Das waren sie nicht gewohnt. Das Essen war reichhaltig und köstlich. Koumamá hatte ein halbes Dutzend Männer eingeteilt für die Tee-Zeremonie, und so glich es fast einer Choreographie, als sie alle den shahid hin und her gossen, immer und immer wieder. Zu fortgeschrittener Stunde packte Fatou eine imzad aus, eine Art Geige mit nur einer Saite, und spielte sie auf virtuose Weise. Zunächst sangen nur die Frauen dazu, aber es dauerte nicht lange, da stimmten die Männer mit ein. Franz beobachtete, dass viele der Männer immer weniger darauf achteten, ob der tagelmust, ihr Gesichtsschleier, korrekt saß. Sie zeigten ihre Münder und fanden nichts dabei. So waren sie: Sie hatten Regeln, aber wenn ihnen danach war, gestatteten sie sich Ausnahmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Und je mehr sie jemandem vertrauten, desto öfter wurden die Regeln gelockert. Es wurde das ausgelassenste Fest, das Franz und Luise je erlebt hatten. Töpfe wurden zu Perkussions-Instrumenten. Die Frauen stimmten ihre flirrenden Trillergesänge an, die sie nur in Momenten des größten Glücks erschallen ließen. Es wurde getanzt und musiziert bis tief in die Nacht hinein, und erst als es sehr kalt und die Glieder müde wurden, brach die Musik ab. Die Tuareg rollten Teppiche auf dem Sand aus, wickelten sich in ihre Decken und schliefen. Nur Luise und Franz fanden noch lange keinen Schlaf, viel zu aufgewühlt waren sie von diesem Abend und dieser Nacht.

      3

      Als Franz am frühen Morgen aus dem Zelt trat, hatte er damit gerechnet, die Tuareg noch schlafend vorzufinden, weil von draußen keinerlei Geräusche herein gedrungen waren. Aber sie waren weg. Und sie hatten gründlich aufgeräumt. Nur die noch immer schwach vor sich hin glimmende Glut und der aufgewühlte Sand zeugten davon, dass sie hier gewesen waren. Ihm war klar: Nun war der richtige Zeitpunkt, um in eine neue Phase einzutreten. Als Luise mit verstrubbeltem Haar müde aus dem Zelt blinzelte, hatte er schon die Kamele gesattelt und auf den Resten der Glut Kaffee zubereitet. Er wollte keine Zeit verlieren.

      Am späten Vormittag waren sie im Lager der Tuareg, und Franz trug Koumamá sein Anliegen vor. Er wollte tamascheq lernen und, als Teil seiner Forschungsarbeit, ein umfassendes Wörterbuch schreiben. Koumamá begriff schließlich, was er vorhatte, und war einverstanden. Von nun an war Franz stets mit Bleistift und Notizblock im Lager unterwegs, und die Stammesmitglieder gewöhnten sich schnell daran, dass er auf alle möglichen Dinge deutete, um zu hören, wie man auf tamascheq dazu sagte. Luise hatte Leinwände, Farben und Pinsel mitgebracht und erbat die Erlaubnis, das Lager und seine Bewohner darstellen zu dürfen. Auch dagegen hatte Koumamá nichts einzuwenden. Mariamá war die erste, die unbedingt von Luise gemalt werden wollte. Sie steckte sich Blätter und Gräser ins Haar und wollte besonders hübsch aussehen. Aber nachdem sie ein paar Minuten Modell gestanden hatte, wurde es ihr langweilig, und sie lief davon. Luise hatte mit dem Bild von ihr gerade erst angefangen, aber das machte nichts.

      »Abmalen kann jeder«, sagte sie. »Wahre Kunst kommt aus dem Bauch.«

      Franz war gefesselt von den Besonderheiten der Sprache, die er erforschte. Das Wort für Löffel etwa lautete tesôkalt. Wenn ein targi von einer Gabel sprach, sagte er hingegen tesôkalt ta-n îssînen, das bedeutete wörtlich übersetzt »Löffel mit Stacheln«. Andererseits verzichtete das tamascheq auf allerlei Ballast, den das Deutsche mit sich führte. Es gab keine Artikel, weder bestimmte noch unbestimmte. Ähnlich wie im Englischen existierte auch keine Höflichkeitsform, man sagte Du, ob man sich gut kannte oder jemandem zum ersten Mal begegnete.

      Franz schlug Luise vor, sich auch miteinander nur noch auf tamascheq zu unterhalten. Wenn sie das eine Weile durchhielten, würden sie bald anfangen, in dieser Sprache zu denken. Luise ließ sich darauf ein, bestand aber darauf, auch weiterhin Deutsch mit ihm zu reden, wenn sie miteinander schliefen.

      Innerhalb weniger Wochen konnten sie sich mit den Tuareg fließend unterhalten. Natürlich gab es noch Lücken, aber die schlossen sich mehr und mehr. Koumamá war beeindruckt, dass diese Menschen sich derart darum bemühten, sein Volk