Pia Wunder

Herzrasen & Himmelsgeschenke


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von einem Fuß auf den anderen. Bis ich mich langsam und widerwillig in Bewegung setze. Das wäre jetzt ziemlich blöd von mir, ihn einfach wieder im Büro abzugeben. Eine Viertelstunde werde ich schon irgendwie rumkriegen. Also verlasse ich das Gelände und muss mich erst einmal orientieren, wo ich überhaupt spazieren gehen kann. Einmal quer über den Parkplatz des Discounters und dann bin ich schnell mitten im Grünen. Sam trabt brav neben mir her und wedelt freudig mit dem Schwanz.

      Ich versuche, ihn nicht zu sehr zu beachten und einfach nur etwas durch die Natur zu gehen. Eben nur mit einer roten Leine in der Hand. Der Weg führt mich an die Agger, wo ich schnell eine Bank finde, auf die ich mich setze. Ein Blick auf die Uhr. Fünf Minuten sind erst vergangen. Völlig angespannt sitze ich dort und tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Ich schließe die Augen und versuche, Ruhe zu finden. Atme tief ein und lausche dem sachten Strom des Wassers. Höre das Vogelgezwitscher. Langsam habe ich das Gefühl, mein Puls beruhigt sich etwas. Mit einem Mal springt Sam auf die Bank und legt sich neben mich. Seinen Kopf platziert er gemütlich auf meinem Oberschenkel.

      Ohne, dass ich es will, wandert meine Hand an seinen Kopf und beginnt, die Stelle hinter den Ohren zu kraulen. Sein Fell ist an dieser Stelle besonders weich. Genüsslich schließt Sam die Augen. Als ich eine Pause mache, wandert seine Pfote geradewegs auf mein Knie. Ich merke, wie mir ein Lächeln durchs Gesicht huscht. Die Pfote mit dem braunen Schokoklecks auf meinem Knie sieht einfach zu knuffig aus. Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu entspannen. Söckchen geht mir wieder durch den Kopf. Urplötzlich durchzuckt mich ein Schmerz. Kein körperlicher Schmerz, nein. Ich muss an die Katzenpfote denken. Ein eisiger Schauer fährt durch meinen Körper. Unwillkürlich nehme ich Sams Pfote und halte sie fest. Sein Kopf hebt sich und sein Blick wandert geradewegs in meine Augen. Er scheint zu bemerken, dass mich etwas belastet. Die Pfote bleibt in meiner Hand und mein Daumen fährt immer wieder über den weichen, braunen Fleck. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie jemand so gefühlskalt sein kann. Ella hatte dieses Kätzchen bekommen, als ihr Vater vor zwei Jahren nach einem Herzinfarkt plötzlich verstorben war. Es hatte ihr durch viele traurige Stunden geholfen und sie getröstet. Wie würde das kleine Mädchen es verkraften, wenn Söckchen nicht mehr da wäre? Was hat ihre Mutter ihr wohl erzählt, warum sich ihr Liebling so kraftlos und erschöpft an diesem Abend unter dem Bett verkrochen hatte?

      Kopfschüttelnd sitze ich auf der Bank, immer noch Sams Pfote in der Hand und seinen Kopf auf meinem Bein. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken und blendet mich. Ich schließe die Augen erneut und versuche, die ankommende Wärme zu genießen. Zuerst verspüre ich leichten Schwindel und fühle mich wackelig, obwohl ich sitze. Doch die die Wärme und das Licht der Sonne tun mir gut. Je länger ich dort sitze, umso wohler fühle ich mich. Es fühlt sich an, als würde mein Energiespeicher wieder aufgefüllt.

      Plötzlich spüre ich einen Ruck. Sam ist aufgesprungen und knurrt. Als ich die Augen öffne, entdecke ich eine weitere Spaziergängerin mit zwei kleinen Yorkshire Terriern. Sie sieht freundlich aus, also tätschele ich Sam´s Kopf, um ihn zu beruhigen. »Alles gut, Kleiner.« Mit einem gut gelaunten Hallo spaziert die Dame an uns vorbei. Ihre kleinen Begleiter bellen furchtbar aufgeregt, doch das ignoriert sie einfach und geht weiter. Langsam wird mein Blick wieder klarer. Wie spät mag es sein? Meinem Rücken nach zu urteilen, habe ich schon viel zu lange auf der Bank gesessen. »Komm, Sam«, fordere ich ihn auf und sofort springt er von der Bank, um auf weitere Anweisungen zu warten. Da ich das Gefühl habe, dass mir etwas Bewegung gut tun würde, nehme ich nicht den direkten Weg zurück zum Tierheim, sondern laufe mit forschem Schritt ein gutes Stück durch den Wald, bevor ich wieder dort ankomme.

      Bisher habe ich immer gesagt, dass mich der Zwang, bei Wind und Wetter immer raus zu müssen, davon abschreckt, mir einen Hund zuzulegen. Heute war es genau das, was ich gebraucht habe. Unter normalen Umständen wäre ich sicherlich jetzt nicht spazieren gegangen. Die Mitarbeiterin, die mir Sam kurzerhand mitgegeben hat, ist nun im Büro. Sie scheint zu hoffen, dass Sam seine Wirkung bei mir nicht verfehlt hat. »Wie war Ihr Spaziergang? Hat alles gut geklappt?« Ich möchte gar nicht lange Smalltalk halten. »Ja. Aber ich muss Ihnen etwas sagen. Eigentlich wollte ich Ihnen heute absagen. Ich werde das unter den Umständen bei mir zu Hause zurzeit nicht schaffen. Aber ich komme gerne hin und wieder, um mit Sam spazieren zu gehen.« Enttäuschung macht sich in ihrem Gesicht breit. Doch sie ist Profi genug, um zu merken, dass eine Diskussion sie nicht weiter bringen würde. »Also kann ich ihn zur weiteren Vermittlung freigeben?« Autsch, die Vorstellung tut weh. Ich schaffe es nicht, das auszusprechen und nicke nur mit dem Kopf. Schnell füge ich hinzu. »Aber morgen komme ich wieder, um mit ihm spazieren zu gehen.«

      Aus meinem Mund kommen weitere Worte: »Können Sie solange mit der Freigabe warten?« Verständnisvoll nickt sie mit dem Kopf. Und sagt weiter nichts. Ich verabschiede mich von Sam und gehe erleichtert zum Auto. Jetzt, wo der Supermarkt gerade nebenan ist, gehe ich doch gleich einkaufen. Zucchini, Kartoffeln. Ja, ich werde mir eine leckere Gemüsepfanne machen, wenn ich nach Hause komme. Da ich nicht vorbereitet war, schlendere ich etwas planlos durch die Gänge und überlege, was ich noch einkaufen muss. Ach ja, Müllbeutel brauche ich. Also gehe ich zurück in den entsprechenden Gang. Zufälligerweise stehen die Leckerlies für unsere tierischen Freunde gleich daneben. Wenn ich morgen das letzte Mal zu Sam gehe, kann ich ihm wenigstens eine Kleinigkeit mitnehmen. Dental Sticks. Das hört sich gesund an. Am liebsten würde ich jetzt noch hingehen, und ihm etwas bringen. Aber ich weiß genau, welche Folgen das für mich hätte. Morgen werde ich hinfahren, um mich zu verabschieden. Dann wird es mir noch einmal schlecht gehen und es ist überstanden.

      Es ist reichlich spät geworden, als ich zu Hause ankomme. Lotte hat das Wetter genutzt und hängt gerade ihre Bettwäsche ab, die sie zum Trocknen rausgehangen hatte. »Hallo Annie, wie war dein erster Arbeitstag?« Sie sieht immer noch braun gebrannt und erholt aus. »So, wie du aussiehst, war es wohl ein anstrengender Tag?« Ihr Blick wirkt besorgt, doch ich versuche gleich, sie zu beruhigen. »Ja, das war er wirklich. War ziemlich heftig heute. Ich muss dringend etwas essen. Hast du Lust, rüberzukommen? Ich mache eine Gemüsepfanne und erzähle dir, was passiert ist.« Sie überlegt. »Eigentlich wollte ich so spät nichts Warmes mehr essen, aber ich kann mich einfach so zu dir setzen und wir trinken ein Glas Wein zusammen.« »Ist gut, dann bis gleich.«

      Vorsichtshalber habe ich einen zweiten Teller auf den Tisch gestellt. Lotte klopft an der offenen Haustüre und tritt gleichzeitig hinein. »Hier in der Küche«, rufe ich ihr zu und schenke ihr ein Glas Rotwein ein. »Mmhh, das duftet aber köstlich.« Sie nimmt auf der Bank Platz. »Greif zu, wenn du möchtest.« Völlig ausgehungert falle ich über meinen Teller her. Nach einigem Zögern nimmt sich auch Lotte eine kleine Portion auf ihren Teller und lächelt schuldbewusst. »Ach Lotte, warum genießt du es nicht einfach ohne schlechtes Gewissen. Sind doch nur ein paar Vitamine. Und du hast doch eine tolle Figur.« »Naja«, antwortet sie nur. »Meine Freundin aus Bennys Krabbelgruppe hat mir einmal gesagt: Wenn ich HEUTE Lust auf etwas habe, tue ich es. Ich weiß nicht, ob ich es MORGEN noch kann.« Lotte lässt den Spruch einen Augenblick auf sich wirken. »Recht hat sie.« Prompt landet eine große Kelle des bunten Gemüses auf ihrem Teller und sie nimmt einen kräftigen Schluck Rotwein.

      Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, zu erzählen. Am liebsten würde ich einfach drauflos sprudeln. Die mögliche Schwangerschaft werde ich vorerst für mich behalten. Lotte würde sich sicher unglaublich freuen und wäre anschließend enttäuscht, wenn es ein Fehlalarm war. Die Geschichte von Frau Dellmann darf ich ihr eigentlich gar nicht erzählen, weil die Mandantendaten natürlich vertraulich sind. Und wenn ich ihr sage, dass ich bei Sam war, um ihn morgen freizugeben, wird sie auch nicht begeistert sein. Spontan übergebe ich ihr den Ball. »Wie waren denn deine ersten Tage zu Hause? Ich habe gesehen, dass du deinen Garten schon fertig hast. Sieht wunderschön aus.«

      Lotte berichtet von ihren Einkäufen im Pflanzenparadies und dem Kaffeeklatsch mit ihrer Freundin aus Hennef. Sie haben dort eine kleines, süßes Café entdeckt, in dem man gemütlich auf dem Sofa Kaffee trinken kann. Wie bei Oma im Wohnzimmer. Liebevoll sind alte, kleine Tische und Stühle arrangiert und einige, genauso alte und sehr stilvolle Tassen und Teller auf den Tischen oder dekorativ im Buffet untergebracht. Dort möchte sie unbedingt einmal mit mir hinfahren. Nach einer Weile fragt Lotte erneut nach. »Und bei dir? Hast du Michael gefragt, ob er mit auf den Hof ziehen möchte?« Ich lache. »Nein, so schnell