Yuna Stern

I#mNotAWitch


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seinen ungeduldigen Worten entlockte er Aiden ein leises Lachen. »Allmählich wirst du mir sympathisch, Professor Doktor.«

      Ohne mich weiter um ihre (freundschaftliche) Auseinandersetzung zu kümmern, stapfte ich auf den Eingang der Fabrikhalle zu. Sobald ich näher kam, flackerte ein automatisches Licht an einer Säule auf. Ich hob die Hand, um zu klingeln. Am Türschild stand noch immer der Name der Waschmittelkette »Clean & Soft: Manufacture«.

      Ich zögerte. War es wirklich richtig zurückzukehren? Brachte ich meine Geschwister damit nicht in Gefahr?

      »Nein«, sagte Finley, der mir genauso wie Aiden gefolgt war. Diesmal war er es, der mir Mut zusprach. »Wir werden nicht irgendwo anders hinreisen. Das ist das Ziel gewesen. Jetzt sind wir hier. Ich kehre mit Sicherheit nicht mehr um. Also, los. Trau dich. Oder soll ich es für dich machen?«

      Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Zeigefinger auf der Klingel verweilen, viel zu lange. Bis mir bewusst wurde, dass sie mich vermutlich längst gehört hatten. Ich riss die Hand zurück und wartete.

      Es sollten die gefühlt längsten Sekunden meines Lebens werden.

      Stille hüllte mich von allen Seiten ein, ich starrte auf die Tür, fragte mich, ob mir jemand mit vertrautem Gesicht öffnete oder jemand anders? Ich fürchtete mich vor den Reaktionen, vor dem Zusammentreffen mit all dem Alten, wo ich doch im Grunde zu etwas Neuem geworden war. Nicht verbessert, sondern einfach nur anders. Eine Art restaurierte Quinn, die noch die Erinnerungen von früher in sich gespeichert hatte. Eine andere Version von mir.

      Als es so weit war, und ich die Schritte auf dem Steinboden hörte, die sich allmählich näherten, hielt ich den Atem an. Ich ahnte mit einem Mal, wer mich empfangen würde.

      Die Tür öffnete ... mein Vater, Richard Donovan.

      Er war nicht mehr der Mann, den mir Lucien vor einigen Monaten vorgestellt hatte. Seine Seitenschläfen waren grau geworden, Falten zogen sich über seine Stirn, tiefe Augenringe ließen ihn müde erscheinen ... und alt. Sobald er draußen auf der Türschwelle erschien, fiel sein Blick zuerst auf Aiden.

      »Ach, du bist es«, sagte er und schien darüber noch nicht einmal überrascht zu sein.

      »Und ... sie«, entgegnete Aiden mit einem Nicken in meine Richtung.

      Dann erst streifte mich der Blick meines Vaters, er sah mich flüchtig an, von Kopf bis Fuß, murmelte ein: »Ich habe dich schon mal gesehen ... Folgt mir.«

      Und das war alles. Keine Begrüßung, keine Umarmung, natürlich nicht. Wer war ich schon für ihn? Eine Fremde. Nein, das war noch untertrieben. Eine fremde Vampirin, die zufälligerweise einige seiner Gene in sich trug. Nicht mehr, nicht weniger. Also warum sollte er mir mehr Aufmerksamkeit schenken?

      Fast wollte ich ihn anschreien. Stattdessen biss ich mir auf die Unterlippe und lief ihm hinterher. Doch in mir brodelte die Wut. Wie lange ich auf diesen Moment gewartet hatte, auf Erklärungen, auf irgendetwas, nur um festzustellen, dass er genauso war, wie meine Mutter ihn all die Jahre lang bezeichnet hatte. »Er war abwesend«, hatte sie damals schon gesagt, auch wenn sie nicht gerne über ihn sprach. »Schon immer. Noch bevor er gegangen war. Ihm hat unser ... gemeinsames Leben nicht zugesagt. Unsere Bestimmung. Für ihn war immer nur wichtig, dass er sich anpasste. In der Menge unterging. Nicht auffiel.« Feige hatte sie ihn damals genannt, doch dass sie ihn trotz allem vermisste, war dadurch offensichtlich, dass sie sich bei dem Thema meist sträubte, sich weigerte, über die Zeit ihres Kennenlernens zu sprechen.

      Die Flure der Fabrikhalle, durch die er uns dirigierte, fühlten sich kalt an. Die Mauern schienen vom winterlichen Wind gequält aufzuächzen. Die Decke rumpelte. Ob es hier wirklich sicher war?

      In einem Nebenraum brannte Licht, dort stand eine Frau mit einer Schürze und kochte Tee. Sie kam mir bekannt vor. Als neben ihr ein Mädchen erschien, dessen Haare so rot wie Feuer waren, wusste ich es natürlich wieder. Das war meine Halbschwester. Und die Frau, die gerade mit einem Tablett leerer Tassen aus der Küche trat, das war die neue Lebensgefährtin meines Vaters. Sozusagen meine ... Stiefmutter.

      Bei ihr war es anders. Sobald sie mich entdeckte, erstarrte sie. »Geh zurück. Warte in der Küche auf mich, Celine.« Das Mädchen gehorchte nicht und versteckte sich hinter dem Rücken seiner Mutter, lugte zu uns hervor.

      »Hi, Jane«, rief Aiden so laut, dass seine Worte von den Wänden der Fabrik widerhallten.

      Die Frau zuckte zusammen. Ihre blonden Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie strich sie nicht beiseite, nickte ihm nur zu, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wie ein seltenes Tier beobachtete sie mich, teils fasziniert, teils verängstigt. Mit ihrer freien Hand packte sie nach der Schulter ihrer Tochter, damit sie nicht in unsere Richtung lief. Was erwartete sie? Dass ich das Kind angriff?

      Bevor ich ihr sagen konnte, was ich davon hielt, hörte ich weitere Schritte. Im Flur erschien ... Savannah. Genauso wie früher, in ihren Armen balancierte sie mehrere leere Teller und eine Teekanne, die sie mit ihrem Kinn zusätzlich stabilisierte. Bei meinem Anblick ließ sie, vermutlich zum ersten Mal in ihrem bisherigen Leben, all das Geschirr fallen. Einzig die Teekanne schnappte sie noch in der Luft, während die Teller auf dem Boden zerschepperten.

      Ich hörte nur, wie sie ungläubig meinen Namen aussprach. Dann trat sie näher auf mich zu und blieb vor mir stehen. Sie schien keine Angst zu haben, im Gegenteil. Mein Anblick schien sie auf gewisse Weise zu beruhigen.

      »Oh, Quinn«, wiederholte sie, ehe sie mich in die Arme schloss. »Dir geht es gut, oder. Sag mir, dass es dir gut geht.«

      Ich versteifte mich angesichts ihrer Herzlichkeit, obwohl ich mich darüber freute. Doch so nah bei ihr zu sein, ihren flatternden Herzschlag zu spüren, ihr Blut unter ihrer Haut zu ertasten, das erschien mir alles doch zu viel auf einmal.

      »Vielleicht«, sagte ich. »Oder auch nicht.«

      Sie brach nicht in Tränen aus, obwohl ihre Augen glänzten. Stumm dankte sie Aiden, der etwas abseits stand. Dann packte sie nach meinem Handgelenk und zog mich über den Scherbenhaufen. »Du musst Phoebe sehen. Und Samuel. Du glaubst ja nicht, wie sehr wir dich vermisst haben. Wir haben jeden Tag über dich gesprochen. Wirklich, jeden Tag.«

      Wir erreichten ein ehemaliges Büro mit einem Schreibtisch in der Ecke des Raums und Aktenschränken auf der anderen Seite. Auf dem grauen Teppichboden waren Matten ausgelegt worden, sowie Schlafsäcke. Dort saßen ... meine weiteren Geschwister.

      Oder nein, ich musste mich korrigieren. Phoebe schnarchte, lehnte mit dem Hinterkopf gegen die Heizung. Und Samuel lag auf dem Rücken, mit einem Rucksack hinter dem Nacken, und blätterte durch ein Buch. Ebenso befand sich dort ein Junge, den ich auch schon einmal gesehen hatte. Mein Halbbruder, dessen Namen ich noch nicht kannte. Oder auch einfach nicht mehr wusste. Hatte Lucien ihn mir gesagt?

      Er saß mit verschlafenen Augen in seinem Schlafsack und blinzelte zur Tür. »Dad, wer hat geklingelt?«

      »Niemand«, sagte sein, auch mein Vater. »Schlaf ruhig.« Er beugte sich über den Jungen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und murmelte: »Dann kriegst du morgen zur Belohnung einen Schokoriegel.«

      »Aber Mom hat gesagt, dass alle Süßigkeiten schon aufgegessen sind.«

      »Ich habe ein Geheimversteck«, zwinkerte er. »Also, Dean ...«

      Obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, so tat es weh, ihn so fürsorglich zu sehen. Eifersucht ließ mich einen Moment lang vergessen, weshalb ich hier war. Doch Savannahs Zischen erinnerte mich wieder daran.

      »Steh auf, Phoebe. Komm schon.«

      Sie trat mit dem Knie nach unserer Schwester, die stöhnte und die Augen halb aufriss, ohne mich bei der Tür zu entdecken. »Lass mich, Hexe. Es ist ... unendlich Uhr. Ich will endlich schlafen. Ich verstehe nicht, wieso wir immer so spät aufbleiben.«

      »Du bist so dumm«, entgegnete Savannah und wandte sich Samuel zu, der das Buch senkte und mich fassungslos anstarrte. »Und nein, du träumst nicht«, sagte sie in seine Richtung. »Das ist wirklich Quinn.«

      »Quinn?«