Kristian Winter

Stalking II


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wollte ich sie natürlich nicht bedrängen, schon um die trennende Distanz nicht noch zu vergrößern.

      Doch seltsam – als sie mich dann mit ihren stillen, unergründlichen Augen unverwandt ansah, in denen so viel Scheu aber auch Neugier zu lesen war, verwirrte mich das derart, dass ich plötzlich nicht widerstehen konnte und mit meiner Geschichte herauskam. Dabei wollte ich das gar nicht. Aber es übermannte mich, ihr zu verdeutlichen, warum ich ihren Kummer verstand und das nicht nur aus Mitgefühl, sondern aus eigenem Erleben.

      Also begann ich nach einigem Zögern mit dem Drama um den Ziegenhirten Neznadiq Shariquiri aus Belutschistan und den Problemen, die ich mit ihm hatte. Dabei erwähnte ich meine Ängste und Nöte, schilderte die Tiefe meiner inneren Zerrissenheit, meinen Wankelmut und Trotz, ließ aber auch die Hoffnung nicht weg. Kurzum, ich gestand ihr all meine Schwächen mit dem Fazit, trotz aller Anfeindungen nicht resigniert zu haben.

      Sie hörte aufmerksam zu, wirkte an manchen Stellen jedoch recht betrübt. Doch je betrübter, je mehr setzte ich nach. Ich wollte ihr einfach zeigen, dass auch eine Ungläubige die Schwere ihres Schicksals teilen konnte. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd. Lange verlor sie kein Wort und sah mich nur verwundert an. Dann aber fragte sie mich plötzlich: „Und Sie haben ihn wirklich umgebracht, so richtig?“ Ein tiefes Entsetzen überschattete dabei ihr Gesicht.

      „Ja, das habe ich“, gab ich zu. „Aber ich musste es tun. Sonst hätte es nie ein Ende gegeben.“

      „Wie? Ich meine, wie haben Sie es getan?“, wollte sie daraufhin mit stockender Stimme wissen.

      „Ich habe ihn erschossen!“

      „Erschossen?“, wiederholte sie und schlug entsetzt die Hände auf den Mund.

      „Ja, mitten ins Herz.“

      „Dann ist Ihnen Gottes Zorn gewiss.“

      „Möglich. Aber ich fürchte ihn nicht.“

      Sie erwiderte daraufhin nichts. Man sah, welche Konfusion das in ihr auslöste und sich ihr Unverständnis nur noch vergrößerte. „Also ich könnte das nicht“, sagte sie nach einer Weile mehr zu sich selbst, als habe sie erst jetzt das ganze Entsetzen verinnerlicht.

      „Das dachte ich auch. Aber dann kam es anders.“

      „Bereuen Sie es?“

      „Manchmal schon“, räumte ich nach einigem Zögern ein.

      „Warum manchmal?“, wollte sie wissen.

      „Weil ich nicht weiß, ob ich es wieder täte.“

      „So etwas kenne ich. Das kann ich verstehen“, gestand sie zu meiner Überraschung ein und begann, sich endlich zaghaft zu öffnen. „Dennoch habe ich meinen Mann nie gehasst und würde ihn auch niemals töten können. Er tat nur, was er tun musste. Anderenfalls wäre er kein Mann, jedenfalls nicht in unserem Sinn.“ Jetzt nahm sie auch dieses alberne Kopftuch ab und ich konnte erstmals ihr fülliges Haar sehen. Sie trug es ganz normal, das heißt, in einer Art modischen Kurzhaarfrisur, die sich in nichts von unseren unterschied. Und doch wirkte sie sogleich ganz anders, so aufgeräumt und unglaublich zivilisiert, dass ich plötzlich jemand ganz anderen vor mir zu sehen meinte.

      „Ich war noch sehr jung, als ich ihm versprochen wurde“, fuhr sie fort und strich sich durchs Haar, „eigentlich noch ein Kind. Meine Eltern hatten es so beschlossen, weil der Clan der El Jeries, dem er angehört, mit dem unseren schon seit langem in Fehde lag. Durch diese Verbindung erhoffte man sich eine Versöhnung. Nur war Mustafa zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet und hatte vier Kinder mit seiner ersten Frau Hatice. Sie müssen verstehen, dass es nach unserem Glauben keine Schande ist, sich mehrere Frauen zu nehmen. Heißt es in der Sure 4.3: ‚So heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, zwei, drei oder vier. Nur so könnt ihr Ungerechtigkeit vermeiden‘. Je mehr Frauen, je höher das Ansehen des Mannes, so sind die Regeln. Die Gefühle der Frau zählen dabei nicht. Sie hat ihm zu dienen und Kinder zu gebären, zum Wohl der Familie. Das ist ihr Bestimmung.

      Aber ich war keine gute Dienerin, müssen Sie wissen. Obwohl ich wusste, dass diese Verbindung schon seit langem geplant war, blieb ich ungehorsam und hatte mich in einen Mann verliebt. Sein Name war Bektül und er entstammte dem Clan der Jel Abad, mit dem wir bereits über meine Schwester Aygun verschwägert waren. Die Notwendigkeit einer weiteren Heirat bestand also nicht. Dabei hätte ich nichts lieber getan, denn eine Frau muss recht früh unter dem Schutz eines Mannes stehen, um nicht Freiwild für andere zu werden. Bektül war in meinem Alter und mir in vielem ähnlich. Wir empfanden füreinander so tief, dass ich, nun ja, das wir miteinander …“

      „Du hast mit ihm …?“

      „Ja, und vor der Hochzeit“, erwiderte sie mit gesenkter Stimme und steckte hilflos die Hände zwischen die Knie. „So etwas ist bei uns Todsünde, denn damit war ich ‚haram‘, also unrein, und das blieb Mustafa nicht lange verborgen. Es kränkte und entehrte ihn. Dabei hatte ich noch versucht, ihn darüber zu täuschen, indem ich etwas Blut in eine … Nun ja, es gibt da so in paar Möglichkeiten, wissen Sie?“ Sie senkte errötend den Blick, um mich danach umso fester anzusehen. „Er hatte das Recht, mich zu töten, tat es aber nicht. Vielmehr hielt er es vor seiner Verwandtschaft geheim. Damit rettete er mir das Leben, denn mir drohte nach der Fatwa die Steinigung. Deshalb bin ich auf ewig in seiner Schuld und er kann über mich verfügen, wann immer er will.“

      „Das ist doch Unsinn!“, empörte ich mich sofort. „Niemand hat das Recht, über jemanden zu verfügen, schon gar nicht in einer demokratischen Rechtsordnung wie der unseren! Und eine Steinigung gibt es schon gar nicht.“

      „Aber der Koran sagt …“

      „Es interessiert nicht, was der Koran sagt!“, fiel ich ihr ins Wort. „Das sind doch nur verstaubte Regeln aus einem anderen Jahrtausend!“

      „Leider nicht für uns, so sehr ich es mir auch wünschte. Bei einem Muslim bestimmen die Scharia und seine Vertreter, der Imam und der Qadi als Friedensrichter. Sie allein verkörpern für uns Recht und Gesetz und der Wille Allahs herrscht überall, egal, wo wir auch leben.“

      „Aber nicht hier, verdammt nochmal!“, wiederholte ich und schlug auf den Tisch. Ich musste erst einmal durchatmen. Zweifellos hatte ich sie damit verschreckt, aber ich konnte das einfach nicht länger anhören. Wie konnte man nur so einfältig sein und das im 21. Jahrhundert! Vor allem wunderte mich die eigene Unbeherrschtheit. Dennoch gab es nichts zu entschuldigen. Was gesagt werden musste, sollte auch gesagt werden.

      Natürlich war ich weit davon entfernt, sie zu verurteilen, jedenfalls nicht, bevor ich ihre Motivation nicht völlig verstand. Und doch spürte ich sofort die vielen Probleme, die bislang eine normale Verständigung verhinderten. Zunächst aber war ich froh, dass sie allmählich auftaute, was die ganze Situation etwas erleichterte. Deshalb verzichtete ich auf weitere Fragen. Wenn sie mir nicht alles sagte, hielt ich das für Scham und empfand kein Misstrauen. Vielmehr glaubte ich, sie würde noch von selbst damit herauskommen, sobald die Zeit dafür reif war.

      Also lenkte ich das Gespräch auf andere Themen. Dabei erwies sie sich zu meiner Überraschung als überaus redselig und mein erster Eindruck der scheuen, etwas unbedarften, religiösen Frau bestätigte sich nicht. Kaum etwas, wozu sie nichts zu sagen wusste. Auf vieles fand sie eine Antwort und bewies in manchem sogar Humor. Kurzum, sie zeigte sich als ganz normale Frau, welche, obgleich etwas verschüchtert, dennoch von erstaunlicher Tiefe war und sich durch nichts von anderen unterschied, trüge sie nicht diese orientalische Tracht.

      Das mag auch der Grund gewesen sein, mein Vorhaben, sie am nächsten Morgen beim Polizeirevier abzuliefern, zu verwerfen. Ich hätte sie dorthin begleiten können, um sie professionellen Händen anzuvertrauen. Dann aber fürchtete ich, man könnte sie wieder zu ihrer Familie zurückführen, was mir sehr wahrscheinlich erschien und das konnte ich nicht zulassen.

      Also beschloss ich, sie für die nächste Zeit bei mir zu belassen, bis mir etwas Besseres einfiel. Nur gab es da keine große Wahl außer einer Meldung bei den Ämtern mit einem im günstigsten Fall problematischen Rechtsstreit und langwieriger Suche nach einer geeigneten Bleibe. Natürlich wäre auch