Daniela Hochstein

Daimonion


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widerstehen oder aber auf die Jagd danach zu gehen, und zuletzt zum Schlafen wieder in meine kleine Gruft zurückzukehren, die bald eine Art `zu Hause´ für mich geworden war. Ein `zu Hause´, vor dessen Eingang ich jeden Abend und jeden Morgen verharrte, um wehmütig zu dem Haus meiner Eltern hinüber zu schauen und mir die Frage zu stellen, was sie wohl über meinen Verbleib denken mochten.

      Suchten sie noch nach mir? Oder waren sie gar böse auf mich, weil ich einfach verschwunden war?

      Diese Fragen quälten mich immerzu, doch nie fand ich den Mut, mich heimlich an das Haus heranzuschleichen, um dort vielleicht Antworten zu finden oder meine Familie wenigstens einmal sehen zu können. Zu sehr fürchtete ich mich davor, von ihnen entdeckt zu werden. Außerdem hatte ich Angst, meine Einsamkeit als noch schmerzhafter zu empfinden, wenn ich sie zusammensitzen sehen würde, ohne mich. Zuletzt blieb mir nichts, als mich notgedrungen damit zu trösten, wenigstens in ihrer Nähe sein zu dürfen.

      Dann kam der Winter und machte seinem Namen alle Ehre.

      Ende Dezember begann es, ohne Unterlass zu schneien und bald schon lag das ganze Land unter einer dicken Schneeschicht begraben. Die Äste der Bäume bogen sich unter der weißen Last und drohten sogar vereinzelt zu brechen. Die Tiere in den Wäldern hatten sich ein dichtes Winterfell zugelegt und die Menschen hüllten sich in warme Mäntel und Stiefel, bevor sie, möglichst nur für kurze Zeit, ihre Häuser verließen.

      Mir hingegen schien die eisige Kälte nichts anzuhaben. Trotz meiner inzwischen zerrissenen, dünnen Kleidung, die ich trug, fror ich nicht im Geringsten. Längst schon waren meine Schuhe löchrig geworden, so dass ich zuletzt gänzlich auf sie verzichtete, doch der Schnee tat meinen nackten Füßen nicht weh. Wenn ich auf Jagd ging, wurden meine Haare sowie meine Kleidung häufig nass, waren manchmal sogar zu Eis gefroren, doch es machte mir nichts aus. Ebenso wenig wurde ich jemals krank dadurch. Nicht einmal der Anflug eines Schnupfens ereilte mich.

      Es mag sein, dass mich die wenigen Menschen, denen ich mich in jener Zeit zeigte, für einen Irren hielten, denn mein verlottertes Erscheinungsbild musste äußerst eigentümlich auf sie wirken. Da sie jedoch unsere Begegnung zuletzt nicht überlebten, war es mir gleichgültig.

      Der Winter zog eine gläserne Mauer zwischen mir und den Menschen. Zumeist konnte ich sie nur noch durch Fensterscheiben beobachten konnte, sodass ihr Leben für mich bloß aus Fragmenten bestand - wie ein Buch, aus dem man ganze Seiten herausgetrennt hatte. Ich fühlte mich so weit von ihnen entfernt, wie nie zuvor und begann mich zunehmend als eine eigene Spezies zu begreifen, von welcher ich allerdings das einzig existierende Exemplar zu sein schien. Und so zog ich mich immer mehr von den Menschen zurück in die Einsamkeit der Wälder, die ich wie ein einzelgängerischer Wolf durchstreifte.

      Ganze Nächte lang durchstapfte ich die unberührte, im Mondlicht glitzernde Schneedecke, blickte zurück auf meine verlorenen Fußabdrücke, beobachtete die Eulen, Füchse, Mäuse und all die anderen selten gewordenen Kreaturen der Nacht bei ihrer Futtersuche. Ja, manchmal half ich ihnen sogar dabei, indem ich ihnen einen Leckerbissen in den Schnee legte und ihnen zusah, wie sie sich, vom Hunger getrieben, immer näher an mich heran wagten, um ihn sich zu schnappen.

      Andere Nächte – zumeist die Enthaltsamen – verschlief ich einfach, und wieder andere nutzte ich, mich der Abwechslung halber in entferntere Städte oder Dörfer zu wagen, um dort auf die Jagd zu gehen.

      So verging die kalte Jahreszeit, und als eines Tages der Schnee zu schmelzen begann und der Duft nach feuchtem Grün die Luft belebte, schien auch mein vor Einsamkeit gefrorenes Herz langsam wieder aufzutauen. Eine schreckliche Sehnsucht nach meinen Eltern und meiner Schwester fing an, sich zehrender als je zuvor in mir auszubreiten. Viele Nächte lang spielte ich mit dem Gedanken, mich nun doch näher an das Haus heranzuwagen, um sie wenigstens einmal wiedersehen zu können. Jedoch verwarf ich ihn nach einigem Abwägen stets wieder. Aber diese Idee geisterte seither unermüdlich in meinem Kopf herum und nahm dort immer mehr Raum ein, bis sie mich zuletzt ganz und gar beherrschte; bis ich irgendwann soweit war, dass ich mich dem Wunsch nicht mehr länger verschließen wollte. Und so schlich ich mich eines Nachts, direkt nachdem ich erwacht war, an den westlichen Flügel des Hauses heran; dorthin, wo meine Familie um diese Zeit zu speisen pflegte.

      Vorsichtig und mit vor Aufregung zittrigen Gliedern näherte ich mich einem der breiten Fenster des Speisesaals, das sich ein wenig abseits der Tafel befand, sodass man mich von drinnen nicht so leicht bemerken konnte, und lugte neugierig hinein.

      Da saßen sie, wie ich es erwartet hatte, alle auf ihren gewohnten Plätzen, und der Tisch war, wie stets, reich gedeckt. Bloß mein Platz – neben Elisabeth - war nicht, wie ich gedacht hatte, leer. Nein, dort saß jemand, dessen Gesicht mir gänzlich unbekannt war.

      Mein Herz begann zu klopfen, als befände sich statt seiner ein aufgebrachter Vogel in meiner Brust, und als hätte ich ein Recht darauf, empfand ich bei dem Anblick des Fremden plötzlich eine bohrende Eifersucht.

      Wer, verdammt, war dieser Kerl und warum saß er auf meinem Platz neben Elisabeth?

      Ich konzentrierte mich darauf, dem Gespräch, in das sie gerade vertieft waren, zu lauschen, was mir glücklicherweise trotz geschlossener Fenster keine Mühe bereitete. Leider jedoch drehte es sich darin durchweg um Belanglosigkeiten, die mir nur wenig interessante Informationen vermitteln konnten. Bald aber war es für mich schon anhand der Zwischentöne, der Gesten und Blicke erkennbar, dass der Fremde mit meiner Familie vertraut zu sein schien. Insbesondere die Art, wie er meine Schwester zwischendurch betrachtete sowie er mit ihr sprach, zeigte mir, dass sie in einer besonderen Beziehung zu ihm stehen musste. In einer Beziehung, die mich besorgt stimmte, denn ich fürchtete, dass sie für Elisabeth bald Anlass sein würde, von zu Hause fortzuziehen, und allein diese Vorstellung war für mich kaum zu ertragen, weil ich sie damit letztendlich endgültig verlieren würde. Das mag vielleicht absurd klingen, da ich sie ja in gewisser Hinsicht bereits verloren hatte. Aber solange sie hier lebte, konnte ich sie zumindest noch sehen, wenn ich es wollte.

      Es war nun zwar keine Neuigkeit, dass meine Eltern schon lange auf Elisabeths Vermählung gedrängt hatten. Doch dass sie nun, wo ich verschwunden war, so schnell dabei waren, sie auch in die Tat umzusetzen, verwunderte mich und ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Nur zu gerne wäre ich hinein gegangen und hätte mich dem offensichtlichen Anwärter vorgestellt, allein um ihn wissen zu lassen, dass ich auf Elisabeth aufpassen würde und er sie gut behandeln sollte. Aber stattdessen stand ich hier draußen, gefangen in einer anderen Welt; einer Welt, die weit, weit entfernt von der Ihren war, und die es mir unmöglich machte, die kurze Strecke zwischen uns zurückzulegen und mich ihnen zu zeigen. Genauso hätte ich tot sein können. Und in diesem Moment hätte ich beinahe nichts dagegen gehabt, es tatsächlich zu sein, denn es war fast schlimmer, diese Machtlosigkeit ertragen zu müssen.

      Gerade jedoch, als ich mich schwermütig von dem Fenster und dem Anblick meiner Familie losreißen wollte, um sie wohl oder übel ihrem Schicksal zu überlassen, in das ich ohnehin nicht eingreifen konnte, hörte ich den Fremden meinen Namen nennen. Noch mitten in der Bewegung hielt ich inne und trat neugierig wieder an das Fenster heran, um besser zuhören zu können.

      `... Ich hatte vorhin zum ersten Mal die Gelegenheit gehabt, Ihre Ahnengalerie eingehender betrachten zu können. Dabei stieß ich auf ein Portrait von ihm in der Reihe Ihrer Kinder... Ich war ein wenig verwundert, hatte ich seinen Namen zuvor noch nie gehört. Ist er... ein Sohn der Familie?´ Der - meines Erachtens taktlosen und indiskreten - Frage folgte eine betretene Stille und dem Fremden wurde die Situation sichtlich unangenehm. Sei es, dass ihm seine Unverfrorenheit erst jetzt bewusst wurde, oder dass er tatsächlich geglaubt hatte, meine Existenz sei bisher eher zufällig unter den Tisch gefallen. Seine Wangen röteten sich und er blickte hilfesuchend zu Elisabeth herüber, die seinen Blick jedoch nicht erwiderte, sondern bloß betrübt auf ihren Teller starrte.

      `Es tut mir Leid´, stammelte er daraufhin eilig, als könne er seine Worte damit rückgängig machen. `Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich erwarte selbstverständlich keine Antwort, wenn über dieses Thema besser geschwiegen werden sollte...´

      Meine Mutter, die auf die Frage des Fremden hin ihren Blick niedergeschlagen hatte, sah nun wieder zu ihm auf und machte eine abwehrende Geste.

      `Nein,